Das Kind mit Brot und Fisch – Geschichte zur Brotvermehrung

„Hier ist ein Kind mit Brot und Fisch.“ Joschua hört die Worte. Ist er gemeint? Hoffentlich nicht, denn die fünf Brote und die zwei Fische, die er bei sich hat, gehören seiner Familie. Der Weg Jesus hinterher ist weit gewesen. Nun hatten alle Hunger am Abend. Unmengen von Menschen sind am Berg zusammengekommen. Alle wollen Jesus sehen und vor allem hören. Er hatte so viel Hoffnung in seinen Worten und hat so vielen Gutes getan.

„Hier ist ein Kind mit Brot und Fisch.“ Schon wieder. Joschua schaut sich um. Tatsächlich, er ist gemeint. Verdammt! Wer hat das rausbekommen, dass er etwas zu essen dabeihatte. Jetzt schiebt ihn auch noch so einer der Freunde Jesu in die Richtung, wo Jesus sitzt. Hat denn sonst keiner an Verpflegung gedacht?

Joschua steht mit grimmigem Gesicht vor Jesus und hält seinen Beutel mit dem Essen fest.

Jesus lächelt. „Du hast auch Hunger, Joschua, nicht wahr?“, sagt er.

„Woher kennt er meinen Namen? Es waren doch tausende hier“, denkt Joschua.

„Schau mal“, sagt Jesus und zeigt auf all die Menschen, „sie haben auch Hunger.“

„Na und?“ Joschua zieht die Schultern hoch.

„Ich möchte dich um etwas bitten“, sagt Jesus. „Du kannst mir helfen, die Menschen satt zu machen.“

„Ich habe nur fünf Brote und zwei Fische, und die sind für meine Familie“, sagt Joschua und fasst noch fester um seinen Beutel.

„Ich weiß.“ Jesus bleibt ganz ruhig. „Aber, wenn wir Gott bitten, dann könnte das für alle reichen.“

Joschua zog skeptisch den Mund zusammen.

„Vertraue mir, bitte“, sagt Jesus und streckt ihm die Hand entgegen.

Joschua zögert. Ob er Jesus den Beutel geben soll?

Jesus schaut nicht fordernd. Jesus ist nicht ungeduldig. Jesus lässt seine Hand ausgestreckt und wartet. Dabei schaut er Joschua fest in die Augen. Es ist ein liebevoller Blick.

Joschuas Griff um seinen Beutel löst sich. Schließlich gibt er Jesus den Beutel.

„Danke, Joschua“, sagt Jesus.

Dann steht Jesus auf, nimmt Brot und Fisch aus dem Beutel und legt sie in leere Körbe, die die Jünger gebracht haben. Er öffnet die Hände zum Himmel und bittet Gott um Essen.

Joschua schaut mit hoch. Es ist nichts zu sehen. Aber, als er wieder in die Körbe schaut, sind sie voll Brot und Fisch.

Die Jünger verteilen das Essen. Es wird immer mehr statt weniger.

Einen Korb hält Jesus Joschua hin. „Nimm und iss“, sagt er. „Und bringe den Korb deiner Familie.“ Der Korb war voll. Es war mehr in ihm, als im Beutel gewesen war.

Joschua greift zu und rennt los. Doch dann hält er inne, stoppt und dreht sich noch mal um: „Danke“, ruft er Jesus zu.

„Ich danke dir“, antwortet Jesus und winkt ihm zu.

Jonatan

Erzählpredigt zu Weihnachten

©Anke Dittmann

Es begab sich aber zu der Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war, da lebte ein junger Hirte mit Namen Jonatan in der Nähe von Bethlehem. Er war noch nicht lange ein Hüter der Schafe. Auf seiner Flucht aus Jericho hatte er Elia getroffen, einen alten Hirten, der ihm Unterschlupf gewährte und ihn schließlich bat, bei ihm zu bleiben. Elia war alt. Er wusste, er konnte die Tiere nicht mehr schützen. Da er keinen Sohn hatte, dem er sein Wissen vermitteln konnte und der einmal seine Tiere übernehmen würde, kam ihm der flüchtige Jonatan sehr zupass. Auch spürte er die Einsamkeit des jungen Mannes, der ohne Zuhause zu sein schien. Doch das allein war ja nicht ungewöhnlich in seiner Zeit.

Elia war ein weiser Alter, er drängte Jonatan nicht, seine Geschichte zu erzählen. Er konnte warten.

Jonatan lebte sich gut ein auf dem kargen Gelände um Bethlehem. Er lernte schnell, erkannte gute Weideplätze, merkte sich die Wasserstellen und war flink mit der Schleuder. Den Umgang mit Waffen war er wohl gewöhnt, beobachtete Elia. Es dauerte nicht lange, bis er herausgefunden hatte, dass Jonatan aus gutem Hause kam. Er konnte lesen und schreiben. Er kannte viele Psalmen auswendig. Und er konnte ebenso gut feilschen auf dem Markt. Elia hatte Vertrauen zu ihm und übergab ihm alles Geld, was er hatte. Es war erstaunlich, was Jonatan daraus für Gewinne zog. Er musste von Kind auf viel gelernt haben. Doch sprach Jonatan immer noch nicht von sich.

Wenn sie abends draußen auf den Feldern blieben, erzählte Elia am Feuer. Jonatan kannte niemanden, der so viele Geschichten in sich trug. Elia kannte die Geschichte Israels und schmückte sie aus wie kein anderer. Wenn Elia die Geschichte Israels lebendig werden ließ, sah Jonatan den König David gegen Goliath kämpfen, er sah Salomos Tempel entstehen, er sah das zerstörte Jerusalem vor sich und die Gefangenen auf ihrem Transport nach Babylon. Elias Geschichten lebten von seinem Glauben. Immer war es der unerschütterliche Gott, der handelte, der Bauten gelingen ließ, der den Kleinen Kraft gab gegen die Großen, der auch strafte, wo Menschen sich von ihm abwandten.

Eines Abends, als Elia die Geschichte von König Kyros erzählte, der als Werkzeug Gottes die Gefangenen Babylons befreite, konnte Jonatan nicht mehr schweigen.

„Du kannst wunderbar  die Geschichten aus alter Zeit erzählen, Elia“, sagte er. „Aber erzähle mir doch bitte einmal, wo heute noch dieser Gott, dem du so vertraust, am Werk ist.“

„Traust du Gott heute nichts mehr zu, Jonatan?“, wollte Elia wissen.

„Wie denn?“ entgegnete dieser ungewöhnlich scharf im Ton. „Er schaut doch nur zu, wie sein Volk zugrunde geht.“

„Er wird uns seinen Retter schicken“, warf Elia ein.

„Wie lange willst du denn noch darauf warten?“ Jonatan machte eine ablehnende Handbewegung, stand auf und ging zu den Tieren. „ich schaue noch einmal nach, ob bei den Schafen alles in Ordnung ist.“

Elia ließ Jonatan gehen. Er verstand seine Sorge, denn auch er wusste um das Elend im Volk.

Am nächsten Morgen musste Jonatan ins Dorf gehen, für die kommenden Tage brauchten sie etwas mehr Proviant. Als er aus Bethlehem zurückkam, hatte er ein verächtliches Lächeln auf den Lippen. „Im Dorf sind sie völlig aufgeregt“, erzählte er Elia. „Augustus hat befohlen, dass alle Menschen in seinem Reich gezählt werden sollen, wegen den Steuern natürlich. Nun muss jeder Mann in den Ort, wo er geborgen wurde. Ein Durcheinander ist das!“

„Wo musst du denn nun hin?“. Fragte Elia.

„Ich?“, entgegnete Jonatan verwundert, „ich bin wie tot, warum sollte ich irgendwo geboren sein? Es wird schon nicht auffallen, wenn ich fehle. Und du?“

„Ich bin hier aus Bethlehem“, antwortete Elia.

„Glück gehabt!“, meinte Jonatan und verschwand auf den Feldern.

Am Abend fragte ihn Elia: „Hast du noch mehr gesehen in Bethlehem?“

„Willst du es wirklich wissen?“, fragte Jonatan zurück.

„Du bist ein kluger junger Mann, hast scharfe Augen und einen klaren Verstand. Du hast es gelernt hinzusehen.“

Jonatan erschrak darüber, dass Elia ihn besser kannte, als es ihm lieb war. „Ich wünschte, ich könnte meine Augen schließen, hätte keinen Verstand und würde wie die Schafe nur einem guten Hirten hinterherlaufen“, sagte Jonatan niedergeschlagen und fuhr fort: „Ich sah römische Soldaten, sie trieben die Menschen wie Tiere auf dem Marktplatz zusammen, damit sie dem Ausrufer zuhörten. Es waren auch Frauen und Kinder dabei, denen das Entsetzen und die Angst im Gesicht standen. Gegen die bewaffneten Römer waren sie wehrlos. Noch mehr Steuern, das heißt, die Menschen werden noch mehr Hunger leiden. Und die Steuern sind doch nur für die vielen Kriege und Eroberungen bestimmt. Wie sind nicht mehr frei, Elia. Und Gott? Ich frage dich, wo ist dein Gott?“

Elia senkte den Kopf und sagte leise: „Auch wenn du mir nicht glaubst, Jonatan, ich stelle mir diese Frage auch und kann trotzdem nicht aufhören zu glauben.“

Er legte Jonatan die Hand auf die Schulter. Den Rest des Abends schwiegen sie.

Am nächsten Morgen machten sie sich auf mit der Herde gen Westen. Es war abgelegenes Land, sicherer für Jonatan. Als sie an diesem Abend den Feuerplatz einrichteten, sagte Jonatan: „Heute, Elia, erzähle ich dir meine Geschichte.“

Elia merkte, wie froh er über diesen Schritt Jonatans war, der ihm wie ein eigener Sohn ans Herz gewachsen war.

Nachdem die Tiere versorgt waren, begann Jonatan zu erzählen: Von seinem Zuhause in Jericho, von seinem Vater, dem guten Stoffhändler, von seinem reichen Leben ohne Not. Er erzählte von den Spielen mit seinen Geschwistern, von seiner Freude in der Synagoge die alten Schriften zu lesen und darüber zu diskutieren. Auch ließ er es nicht aus, Elia davon zu berichten, wie er kämpfen gelernt hatte. Der Umgang mit dem Schwert gab ihm ein Gefühl von Kraft und Macht. Doch seit immer mehr Menschen in Jericho mit den Römern zusammenarbeiteten, war das Leben schwerer geworden. Die Zölle stiegen ins Unermessliche. Sein Vater hatte viel Geld verloren und war darüber in Streit geraten mit seinem Nachbarn, der jetzt Oberzöllner war.  „Mein Vater kann Ungerechtigkeit nicht ertragen“, sagte Jonatan. „Er scheute sich nicht, unseren Nachbarn auch öffentlich anzugreifen. Das haben wir teuer bezahlt. Eines Tages kamen die Römer in unser Haus, plünderten, schlugen alles kurz und klein. Meinen Vater haben sie halb tot geschlagen und verschleppt. Meine Mutter brutal entwürdigt. Ich, der Älteste, was gerade nicht zu Hause, als es geschah, sonst hätte ich sie verteidigen können. Ich ging hinterher zu unserem Nachbarn, der uns angeschwärzt hatte, und habe Rache genommen.“

Jonatan stockte einen Moment. „Ich war starker als er und er erlag schon am Boden. Aber ich habe es nicht geschafft, ihn zu töten. Und dieser Schuft hat darüber gelacht – dieses Lachen werde ich nie vergessen, es trieb mich aus seinem Haus.“

Elia sah Jonatan durch die Augen ins Herz. Jonatan konnte nicht mehr weitersprechen. Elia tat es für ihn. „Deine Mutter meinte dann, es sei besser, wenn du dich in Sicherheit bringst?“ Jonatan nickt. „Und wir Hirten, verachtet am Rande der Gesellschaft, sind da ein guter Schutz“, sagte er und dachte: „Auch er wird dieses Unrecht nie ertragen können und zerbrechen, wenn er keine Hoffnung findet.“

Am nächsten Morgen schien Jonatan gelöster zu sein. „Ich bin froh, dass du es nun weißt“, sagte er zu Elia.

Es wurde danach eine stille Woche zwischen beiden, bis sie, als ihre Vorräte verbraucht waren, zurückkehrten nach Bethlehem.

Dort trafen sie gleich am ersten Abend mit anderen Hirten zusammen. Alle waren in Aufregung. Die Volkszählung war immer noch nicht abgeschlossen, eine ganzes Land war auf den Beinen, im Dorf selbst fand keiner mehr eine Unterkunft.“

„Gut, dass wir es gewohnt sind, draußen zu schlafen“, lästerte Amos, ein angereister Hirte aus Beer Schewa. „Aber was machen die, die alte und krank sind, was machen die müden Kinder. Ich habe ein Paar eine Herberge suchen sehen, wo die Frau hochschwanger ist, die wird ihr Kind noch auf der Straße zur Welt bringen müssen“, meinte er.

„Schlimme Zeiten sind das“, stöhnte Elia. Und Jonatan wunderte sich über die Hoffnungslosigkeit in seinen Worten.

In dieser Nacht blieben die Hirten nah beisammen aus den Feldern. Elia und Jonatan hatten die Wache für die Tiere der Hirten übernommen, die wegen der Zählung nach Bethlehem gekommen waren. So blieben sie wach, während die anderen zu schlafen versuchten.

„Du musst dich vielleicht doch besser in Sicherheit bringen“, meinte Elia zu Jonatan.

„Ich hatte gehofft, diese Zählerei hätte schon ein Ende“, erwiderte dieser. „Ich werde darüber nachdenken.“

Nach langer Stille sagt er dann: „Du hast lange keine Geschichte mehr erzählt, Elia.“ Doch dieser antwortete ihm nicht.

In der Mitte der Nacht stieß Jonatan Elia an. „Bin ich wieder eingeschlafen, ich alter Esel“, schimpfte dieser über sich selbst.

„Schau mal in den Himmel“, forderte ihn Jonatan auf.

Elia sah nach ober und konnte nichts entdecken.

„Es ist heller als sonst“, meinte Jonatan.

Elia strengte seine Augen an. „Meint du? Ich weiß nicht“, zweifelte er.

Da sahen beide aber auf einmal Licht vom Himmel herabkommen. Unwillkürlich fassten sie sich an. Die anderen Hirten erwachten, als das Licht näherkam. Sie rückten zusammen und starrten nach oben. Das Licht wandelte sich erkennbar in eine Gestalt, die ruhig und sanft zu ihnen sprach: „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch eine große Freude! Der Messias ist heute geboren. Ihr werdet das Kind in einem Stall in Bethlehem finden. Es ist der Retter. Geht und seht, wie Gott euch liebt.“

Als diese Worte gesprochen waren, wurden mehr und mehr Lichtgestalten erkennbar. Einige am Himmel, andere aber hinter einem jeden Hirten. Gemeinsam sangen sie. Jonatan hörte nur ein Wort: Frieden. Dann war alles wieder dunkel.

Jonatan sah ein Leuchten in Elias Augen. Das war die Botschaft, auf die er so lange gewartet hatte.

Jonatan aber konnte es kaum glauben. „Lasst uns sehen, ob es wahr ist, was zu uns geredet wurde“, rief er.

Noch wie im Taumel schlossen sich ihm alle Hirten an, so zogen sie nach Bethlehem, fanden den Stall, Maria und Josef und das Kind.

„Das ist das Paar, von dem ich erzählt habe“, flüsterte Amos im Stall.

Elia trat hervor und ging auf Maria zu. Er erzählte ihr von den Worten der Himmelsboten. Und sie teilten mit den jungen Eltern von dem Proviant, den sie bei sich trugen, und sprachen Segengrüße aus für das Kind.

Jonatan blieb erst abseits. Seine Augen musterten den Stall, den müden Vater an der Krippe, das erschöpfte Lächeln der Mutter. So hatte er sich den Messias nicht vorgestellt. Doch dann spürte er in sich einen Drang, zur Krippe zu gehen. Es war wie ein Schubs. Er dachte an die Gestalt, die er vorhin auf dem Feld kurz hinter sich gefühlt hatte. Maria lud ihn ein, Jesus einmal in den Arm zu nehmen.

„Wie soll er der Messias sein?“, platzte es aus Jonatan heraus.

Maria lächelte ihn an und erzählte von ihren Engelsbegegnungen. Und so wie Maria die Worte der Hirten in ihrem Herzen bewegte, nahm Jonatan ihre Worte in sich auf: von Jesus, dem verheißenen Kind, in dem Gott die Niedrigen erhebt, die Hungrigen speist, Barmherzigkeit üben wird. Jonatan blickte wieder auf das Kind und dachte an das, was er auf dem Feld gehört hatte: Frieden.  „Friede sei mit dir“, sagt er zu dem Kind und legte es vorsichtig zurück in die Futterkrippe.

Die Hirten blieben nicht allzu lang. Sie wollten die kleine Familie nicht stören. Auch drängte es sie, weiter zu erzählen, was sie gehört und gesehen hatten. Nur Elia und Jonatan gingen zu den Herden zurück. Am Feuer brach Elia ihr Schweigen mit einer alten Weissagung, die Jonatan nur zu vertraut war: „Und ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst, auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende in seinem Königreich, dass er´s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.“

„Es wird ein anderer Weg werden als gedacht“, sagte Jonatan. Elia nickte.

„Und doch fühle ich mich diesem Weg so nah, warum nur?“, fragte er Elia.

Dieser wusste die Antwort: „Weil du selbst im Moment des größten Hasses, den Zöllner nicht töten konntest. Dieses Kind wird dich brauchen, Jonatan, schließe dich ihm an, wenn es so weit ist.“

Es gingen noch Jahre ins Land, bis Jonatan Jesus als Erwachsenen wiedersah. Aber er hatte das Warten gestalten gelernt, denn die Hoffnung hatte ihn wieder lebendig gemacht. Sein Vertrauen auf Gerechtigkeit und möglichen Frieden war in ihn zurückgekehrt. Die Freude der Engelsbotschaft fühlte er um und in sich. Willig hörte und lernte er noch von Elia, solange er an seiner Seite lebte, lernte Sorge zu tragen für das Leben und erkannte die Wahrheit der alten Geschichten. Und, wie Elia, erzählte er überall davon und lebte die Friedensbotschaft, die den Hirten verheißen war.

Erst als Jünger Jesu aber traute er sich wieder nach Jericho. Den alten Nachbarn gab es nicht mehr, aber den neuen raffsüchtigen Zöllner Zachäus, der sich durch Jesus verwandeln und befreien ließ.

Seine Familie suchte Jonatan auch wieder auf. Sein Vater war krank durch eine lang erlebte Kerkerhaft, doch ungebrochen in seinem Glauben an Gerechtigkeit. Jonatan hatten ihnen viel zu erzählen, von Elia und unzähligen Gesprächen am Feuer, vom Hüten der Schafe, von dem Licht von Bethlehem und von den Engeln, denen im Himmel und denen auf Erden.

Dann zog er weiter an der Seite von Jesus mit nach Jerusalem und konnte leben, was er schon immer in sich als Lebensweg empfunden hatte.

Der Enkel des Gastwirts

Eine Weihnachtsgeschichte 

Wenn ich nach Hause komme nach Bethlehem, dann ist mein erster Stopp immer bereits draußen vor dem Dorf, auf der Wiese, wo der Stall steht. Jedes Jahr wundere ich mich, dass er noch steht, denn er ist ein bisschen schief, als würde er den Wind einladen, ihn um zu pusten. Aber der Stall hält. 

„Er wird ewig halten“, hat mein Großvater immer gesagt. Er muss es wissen, er hatte ihn gebaut. Ich habe meinen Großvater sehr geliebt. Er ist der Grund, warum ich jedes Jahr so gern nach Bethlehem zurückkomme. Hier kann ich mich am besten an ihn erinnern. 

Als er älter wurde, hat mein Großvater um den Stall herum einen Zaun gezogen. Aber das war erst lange nach der Nacht der Nächte. Er fing im Alter an, alte Esel aufzunehmen. Sie haben bei ihm das Gnadenbrot bekommen. Dass ihn dafür so mancher für verrückt hielt, störte ihn nicht. Er wollte Gutes tun und die Esel weckten Erinnerungen. In den Jahren davor hatte er den Stall nur genutzt für die Tiere von Gästen. Denn mein Großvater war Gastwirt. 

Ich nähere mich dem Zaun und schon kommt einer der Esel zu mir. Ich mag diese grauen Vierbeiner, auch wenn sie so störrisch sein können. Natürlich habe ich eine Möhre dabei, das ist Tradition. 

Der Zaun ist für mich kein Hindernis. Und mein Ziel ist natürlich der Stall. Wenn ich den Zaun überwunden habe, folgen mir manche Esel. So wie damals Großvater. Die Tiere wissen, wer sie mag.

Als ich noch ein Kind war, ging Großvater oft mit mir in den Stall. Wir setzten uns auf das Stroh und er erzählte. Es war immer dieselbe Geschichte, aber ich konnte sie gar nicht oft genug hören. Und ich erinnere mich genau. Wenn ich heute im Stall auf dem Stroh sitze, geht sie mir wie selbstverständlich durch den Kopf.

Als Großvater sehr alt geworden war, schnaufte er schon ein wenig, wenn es den leichten Hügel bergan ging. Im Stall angekommen, musste er sich erst einmal ausruhen, als hätte er eine lange Reise hinter sich gebracht.

„Weißt du“, begann er dann, „so erschöpft waren die beiden damals auch, der Josef und vor allem die Maria, als sie hier in Bethlehem ankamen. Was für ein Irrsinn, hochschwanger auf die Reise zu gehen, aber sie mussten ja. Der Kaiser wollte es so. Und die Römer hatten das Sagen, wie heute noch. Die beiden taten mir leid, aber ich hatte wirklich kein Zimmer mehr frei. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was damals los war, überall Menschen, dazu Karren, Esel, Geschrei und Gestank. Viele bauten sich schon ein einfaches Lager an der Straße. Man hätte meinen können, sie wären auf der Flucht.“ 

Großvater machte an dieser Stelle immer eine Pause und atmete tief ein. „Weißt du, Junge“, sagte er dann, „ich habe schon so viel Elend auf den Straßen gesehen.“ Er schüttelte den Kopf und schloss für einen Moment die Augen.  „Aber bei diesen beiden, dem Josef und der Maria, da musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich konnte sie nicht einfach so wegschicken. Maria war noch so jung und in ihren Augen sah ich auch Angst. So schickte ich sie mit ihrem Esel in diesem Stall. Damals hatte ich noch den alten Ochsen von Joses dort stehen, aber zum Glück kamen die beiden miteinander aus. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das junge Paar dort allein zurückzulassen, aber was sollte ich tun, meine Herberge war voll. Wir hatten viel zu tun, deine Großmutter und ich. Mit all den Gästen konnte ich sie doch nicht einfach allein lassen.“ 

Meist, wenn wir im Stall saßen, kam einer der alten Esel durch die offene Stalltür und stupste meinen Großvater mit dem Kopf. Großvater hatte immer eine Möhre dabei und gab sie dem Esel. Dann graulte er ihn hinter den Ohren. Der Esel ließ sich bei uns nieder, als wollte er hören, wie die Geschichte weiterging.

„Kommt jetzt das große Licht?“ fragte ich meinen Großvater. 

„Genau, Simon. Das heißt, ich habe es gar nicht bemerkt. Großmutter war es, die mich darauf aufmerksam machte. Der Himmel vor Bethlehem war hell erleuchtet und deine Großmutter war überzeugt davon, dass sich dort etwas am Himmel bewegte. Naja, ich hab´ ihr nicht geglaubt. Eine Zeit danach kamen dann Hirten durch das Dorf. Sie riefen in die Häuser hinein:  ‚Der Retter ist geboren. Ein Engel hat es uns erzählt und wir haben den Heiland mit eigenen Augen gesehen. Da draußen im Stall. Nun kommt endlich Frieden.‘                                      So riefen sie immer wieder. Meine Gäste schauten verwirrt, einige lachten. ‚Geht wieder zu euren Schafen‘, riefen sie. Du weißt ja, mit den Hirten will keiner etwas zu tun haben, sie gelten als rau, sind dreckig und so arm, dass alle ihre Geldbeutel festhalten, wo sie auftauchen. Nach einer Weile verschwanden die Hirten wieder. Es kehrte Ruhe ein.“

Großvater kraulte den Esel. Dann fuhr er fort: „Ein Retter im Stall? Mich ließ das aufhorchen. Sollte das Kind schon geboren sein? Ich verließ die Herberge und schlich mich an den Stall heran. Durch die Ritzen sah ich dann das Kind im Futtertrog liegen. Im Futtertrog! Maria sah erschöpft aus und Josef besorgt, aber auch erleichtert. ‚Was für eine Zeit, wo Kinder im Stall geboren werden und in eine Krippe gelegt werden müssen‘, dachte ich noch. Dann ging ich zur Herberge zurück und schickte deine Großmutter zu ihnen mit frischem Wasser und etwas Brot. Es dauerte eine Weile, bis sie wiederkam. Die drei haben sich wohl gut unterhalten. Auf jeden Fall wusste sie, dass das Kind Jesus hieß und dass die Geburt den Umständen entsprechend gut verlaufen war. Sie brachte Maria dann noch saubere Tücher und meinte, die drei bräuchten jetzt vor allem Ruhe.“ 

An dieser Stelle habe ich oft daran gedacht, was meine Mutter mir von meiner Geburt erzählt hatte. Wir waren auch hierher nach Bethlehem gereist, ich noch im Bauch. Aber es waren noch Wochen hin zur Geburt und meine Großmutter war dann dabei und half. Und ich bekam einen wunderbaren Platz auf einer Strohmatte und hatte es warm. Großmutter half uns so viel, dass meine Mutter sich gut erholen konnte.

Großvater lächelte mich dann an.                                                                                               „Na, denkst du daran, wie gut du es hattest?“, sagte er, als könnte er Gedanken lesen. 

Oft stupste der Esel dann mich an. Er wollte wohl noch eine Möhre, aber ich hatte keine. So trottete er wieder nach draußen. Vielleicht mochte er das Ende der Geschichte nicht, weil nun die vornehmen Leute kamen.

„Zur Ruhe kamen die drei aber nicht“, erzählte Großvater weiter. „Denn ein heller Stern war über dem Stall aufgegangen. Und dieser lockte drei seltsame Gestalten herbei, – echt vornehm, mit Kamelen und Dienern, und die Kamele trugen ihre Satteltaschen voll mit kostbaren Sachen. Ich konnte nicht anders, als den dreien zu folgen. Ich hatte ja schon so eine Vermutung. Und so kam es dann auch. Sie gingen in den Stall. Das war ein geradezu irrwitziges Bild. Drei Menschen, die wie Könige aussahen, vor dieser schrägen Hütte. Aber sie zögerten nicht und gingen hinein. Und da sie die Tür offenließen, konnte ich sehen, wie sie auf die Knie fielen. Und sie beteten das Kind an. 

Dann packten sie Geschenke aus. Maria und Josef waren ganz verwirrt, nahmen aber die Geschenke artig an. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, gingen diese vornehmen Herrn wieder, allerdings nahmen sie eine andere Route, das habe ich gleich gemerkt. Der Stern blieb noch über dem Stall. Es war schon eine seltsame Nacht.

Ich habe mich schließlich zur Ruhe gelegt, aber weder Großmutter noch ich konnten damals einschlafen. Mit diesem Kind stimmte etwas nicht. Den nächsten Tag ließen wir die drei in Ruhe. Großmutter brachte nur noch einmal Essen, Wasser und frische Tücher. 

Und am dritten Tag waren sie auf einmal weg, wie vom Erdboden verschwunden. Sie haben sich nicht einmal verabschiedet. Aber letztlich war es gut, dass sie weg waren, denn kurz darauf kamen die Soldaten von Herodes und suchten das Kind. Da war ich dankbar, dass es in Sicherheit war.“

Wieder machte Großvater eine Pause, doch ich wusste, die Geschichte war noch nicht zu Ende.

„Naja, du weißt ja, mein Junge“, sagte er dann. „Dieses Kind war noch einmal hier. Da war dieser Jesus aber schon erwachsen. Viele folgten ihm. Er tat Wunder und erzählte von Gott. Das hat mich auch beeindruckt. Und als er hier durch den Ort ging, stand ich am Straßenrand. Da blieb er direkt bei mir stehen und legte mir die Hand auf die Schulter.                                                                                  ‚Gott segne dich‘, sagte er. Ich habe mich von ihm erkannt gefühlt, so als hätte er gewusst, dass er in meinem Stall zur Welt gekommen war.                                                                     ‚Es tut mir leid, dass ich kein Zimmer mehr frei hatte‘, rief ich noch, da war er aber schon weiter. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Jeden Tag habe ich dann über diesen Jesus nachgedacht. 

„Und dann, Großvater“, sagte ich, „hast du den Stall immer wieder ausgebessert.“

„Ich kann ihn doch nicht abreißen, wenn wirklich der Retter, der Messias, darin geboren ist“, erwiderte er nachdenklich.  

 Schließlich legte er sich auf das Stroh und streckte sich aus. Er war müde geworden vom Erzählen. Er schloss für eine Weile die Augen.

„Weißt du was, Simon“, sagte er dann. „An keinem anderen Ort finde ich so tiefen Frieden wie hier, wenn ich an dieses Kind denke.“

Dann schwiegen wir und gingen später stumm zurück. Aber es war kein peinliches Schweigen, sondern ein tiefes Verstehen. 

All das geht mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich Bethlehem besuche. Wenn ich am Zaun ankomme, einen der alten Esel kraule und in den Stall hineingehe, denke ich daran, und  an Großvater, an diesen tiefen Frieden in seinem Gesicht und zwischen uns.  Und dies Gefühl ist geblieben und trägt mich.                                                                                                                                                     Ich bin meinem Bruder dankbar, dass er sich um die alten Esel kümmert und den Stall erhält, auch wenn er schon oft darüber geflucht hat. Natürlich kennt er die Geschichte von Großvater auch und sie ist wie ein Band zwischen uns allen geworden.

Mein Großvater war der Wirt von Bethlehem, der Wirt mit dem Stall vor dem Dorf. Und er war der, der in jener Nacht neugierig wurde und dann seinen Frieden fand. Ich finde ihn hier auch und bin dankbar, dass er mir alles immer wieder erzählt hat. 

Wer weiß, ob es Gespenster gibt? 

Draußen war es dunkel. Tina war aber noch wach. Schon vor einiger Zeit hatte ihre Mutter sie ins Bett gebracht.

„Jetzt denken alle, ich schlafe“, dachte Tina. Und dabei schaute sie lächelnd aus dem halb geöffneten Fenster. Es war Sommer und sehr warm.

Zuerst sah sie nicht viel draußen, aber nach einiger Zeit hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt sah sie die Häuser gegenüber und den großen Baum auf dem Hof.

Plötzlich bewegte sich etwas in der Luft. Tina schaute genau hin. Eine tanzende Gestalt kam näher. Tina hatte keine Angst, denn die Gestalt sah sehr lustig aus. Sie war etwa so groß wie Tina selbst, hatte ganz lange, dünne Beine und große Schuhe mit kleinen Glöckchen. Die Augen waren ganz groß. Und sie trug einen schwarzen Rock, der hin und her wehte, denn die Gestalt tanzte die ganze Zeit. Am schönsten aber war das weiße Tuch, das der Gestalt um den Hals hing.

Tine lehnte sich weit aus dem Fenster und rief: „Hallo, du.“

Die Gestalt rief zurück, „Hallo, Tina.“

„Du kennst meinen Namen?“, fragte Tina.

„Ich kenne die Namen aller Kinder, die im Dunkeln aus dem Fenster sehen.“ Die Gestalte lachte. Dabei tanzte sie.

„Wer bist du?“, fragte Tina, „bist du ein Gespenst?“

„Haha, nein, ich bin doch kein Gespenst.“ Abermals lachte die Gestalt und drehte sich ganze schnell einmal herum. „Ich bin ein Lufttänzer. Gespenster gibt es nicht. Übrigens, ich heiße Luftikus.“

„Woher weißt du, dass es keine Gespenster gibt?“, fragte Tina.

„Oh, ich habe noch keins gesehen. Und ich komme viel herum, glaube mir.“

„Aber meine Mutter erzählt mir doch von Gespenstern in ihren Geschichten“, sagte Tina.

„Also, ganz genau weiß ich es auch nicht“, sagte der Lufttänzer, „wollen wir andere fragen?“

„Wie denn“, fragte Tina.

„Stell dich auf das Fensterbrett“, sagte Luftikus. „Dann zeige ich dir, wie man durch die Luft tanzen kann.“

„Oh, ja“, rief Tina und kletterte auf das Fensterbrett. Luftikus kam dicht an sie heran und nahm ihre Hand. „Mit dem rechten Fuß musst du anfangen, dann frei Schritte machen, dich schnell auf der Stelle drehen, einmal um dich herum. Dann fünf Hüpfer weiter geradeaus und dasselbe noch einmal.“

Das war ja einfach. Hand in Hand ging Tina vorsichtig ihre ersten Schritte mit dem Lufttänzer durch die Nacht. Und bei jedem Schritt klingelten die Glöckchen an den großen Schuhen von Luftikus. Tina gefiel es großartig, durch die Luft zu tanzen.

„Wen sollen wir zuerst fragen?“, fragte Tina Luftikus.

„Ach, wir wollen einfach sehen, wen wir in der Nacht treffen“, meinte Luftikus. Sie tanzten über die Nachbarhäuser zum Park. Doch es war niemand zu sehen. Ganz dicht über die Bäume hinweg tanzten sie. „Da, siehst du?“, fragte Luftikus plötzlich. „Da unten, da leuchtet es.“

Jetzt konnte es auch Tina sehen. „Das sind Glühwürmchen“, sagte sie.

„Ja“, sagte Luftikus, „die wollen wir fragen.“ Erfreut, jemanden gefunden zu haben, ließ er Tinas Hand kurz los und schlug in der Luft einen Purzelbaum. Tina lachte. Dann tanzten sie gemeinsam auf die Glühwürmchen zu. „Hallo“, rief Luftikus ihnen laut entgegen. Die Glühwürmchen piepsten freundlich zurück. Sie kannten Luftikus, den sie oft nachts über der Stadt trafen. Luftikus stellte Tina vor: „Das ist meine kleine Freundin, Tina“, sagte er, „wir wollen herausfinden, ob es wirklich Gespenster gibt. Wisst ihr da Bescheid?“

Die Glühwürmchen schauten sich alle an. Dann flogen sie schnell dicht zusammen und tuschelten. Tina schaute gebannt auf die kleinen Tiere. Nachdem die Glühwürmchen eine Weile getuschelt hatten, schüttelten alle den Kopf. Ein Glühwürmchen kam auf Luftikus zugeflogen. „Tut mir leid, Lufttänzer, aber von uns weiß es niemand genau. Auch hat keiner von uns je ein Gespenst gesehen.“

„Schade“, meinte Luftikus, „aber vielen Dank für die Auskunft.“

„Oh ja, vielen Dank, wie werden noch weiterfragen“, rief Tina den Glühwürmchen zu.

Und schon nahm Luftikus sie bei der Hand und sie tanzten wieder hinaus in die Baumwipfel. „Wen werden wir wohl das nächstes treffen?“, dachte Tina bei sich. Doch sie brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten. Luftikus stoppte mitten im Tanz. „Hörst du?“, fragte er Tina. „Was?“, fragte sie. „Das tiefe Brummen. MMMM.“

Tina lauschte. Ja, jetzt hörte sie es auch. Was konnte das nur sein? „Das ist eine Motte, das ist bestimmt eine Motte“, rief Luftikus, „die können wir fragen.“ Wieder freute er sich so sehr, dass er Kapriolen in der Luft schlug.

„Vorsicht!“, rief da eine tiefe Stimme, „aufpassen im Luftverkehr.“ Tina erschrak. Welche ein riesiges Tier war das? „Oh, Entschuldigung“, sagte Luftikus schnell und stellte sich wieder ordentlich in die Luft. „Ach, du bist es, Luftikus. Der verträumteste Lufttänzer, den ich kenne.“ Jetzt war die tiefe Stimme schon freundlicher. „Meine Freundin Tina und ich würden dich gern etwas fragen“, sagte Luftikus freundlich zu dem großen, dunklen Tier, das jetzt dicht vor ihnen seine großen Flügel auf und nieder schlug. „Weißt du, ob es Gespenster gibt?“, fragte Tina die Motte. „Gespenster?“, fragte die dunkle Stimme zurück, „nun, ich glaube, es gibt keine. Aber genau weiß ich es wirklich nicht. Aber wenn euch jemand helfen kann, dann die alte Eiche am anderen Ende des Parks. Sie hat schon viel erlebt.“

„Ein guter Rat, vielen Dank.“ Luftikus verabschiedete sich, denn er wollte sich mit Tina gleich auf den Weg zur Eiche machen. „Ich wusste nicht, dass Motten so groß sind“, sagte Tina. „Es sind auch nicht alle so groß“, antwortete Luftikus, „dies war eine große Nachtmotte. Davon gibt es nur noch wenige. Sie sehen immer sehr gefährlich aus, sind aber sehr nett, wenn man sich an ihre dunkle Stimme gewöhnt hat.“

Luftikus zeigte Tina noch andere Spiele in der Luft. Tina schaffte es sogar, auf ihren Händen durch die Luft zu laufen. So hatten beiden schnell das andere Ende des Parks erreicht. Dort war die alte Eiche. Über zweihundert Jahre stand sie schon dort. Tina und Luftikus setzten sich auf einen Ast. Luftikus klopfte einfach drauf und rief: „Alte Eiche, wir wollen dich etwas fragen.“

Nichts rührte sich. Luftikus versuchte es noch einmal. „Alte Eiche, wir wollen dich etwas fragen.“ Da ächzten die Zweige. Tina und Luftikus mussten sich schnell festhalten, damit sie nicht herunterfielen. Dann sagte eine müde Stimme ganz leise: „Wer ist da? Wer weckt mich auf so mitten in der Nacht?“

„Oh, entschuldige bitte“, sagte Tina, „wir wollten nicht stören. Ich wusste nicht, dass Eichen schlafen.“

„Schon gut“, meinte die Eiche, „was wollt ihr denn?“

„Weißt du, ob es Gespenster gibt?“, fragte Luftikus frei heraus.

„Nein, nein“, antwortete die Eiche, „die gibt es nicht.“

„Bist du dir ganz sicher?“, fragte Tina.

„Wer kann schon etwas sicher sagen?“, sagte die Eiche. „Nein, so ganz sicher bin ich mir nicht. Aber fast sicher.“

„Das reicht nicht“, meinte Luftikus. „Wir wollen es ganz sicher wissen.“

„Da kann euch nur einer helfen“, stöhnte die Eiche, „wisst ihr, wo im Wald die Eule wohnt?“

„Ja“, sagte Luftikus, „das weiß ich.“

„Ich es weit weg?“, fragte Tina Luftikus.

„Er antwortete: „Nah, ist es nicht, aber wir werden es schon schaffen. Du bist doch noch nicht müde, oder?“

Tine schüttelte den Kopf. Sie dankten der Eiche für die Auskunft und machten sich auf den Weg in den Wald. Als sie die ersten Bäume des Waldes erreichten, wurde Tina doch etwas unheimlich. Sie hielt sich dichter an Luftikus.

„Sind Eulen eigentlich böse?“, fragte Tina Luftikus. „Nein“, antwortete er, „sie leben nur ganz anders als ihr Menschen. Wenn ihr schlaft, sind die Eulen wach. Sie lieben die Nacht.“

„Sind Eulen besonders klug?“, fragte Tina weiter. „Sie sind sehr weise. Sehr, sehr weise“, sagte Luftikus. Leicht tanzten sie gemeinsam über die Baumwipfel. Auf einmal bremste Luftikus. Er hüpfte auf der Stelle.

„Siehst du den großen, alten Baum dort, Tina?“, fragte er. Tina nickte.

„Es ist ein toter Baum. In einem großen Loch im Stamm lebt die Eule. Wir wollen jetzt vorsichtig an sie herantanzen.“

Luftikus nahm Tina bei der Hand und sie hinkten immer abwechselnd drei Mal mit dem rechten und dann drei Mal mit dem linken Bein an den alten Baum heran. Direkt vor dem Loch im Stamm war noch ein alter Ast. Vorsichtig ließen sich beide darauf nieder. Tina guckte aufgeregt in das dunkle Loch. Auf einmal sah sie zwei riesige Augen. Tina erschrak sehr.

Dann kam die Eule an den Rand des Stammloches. Tina hätte nie gedacht, dass Eulen so große Augen haben. „Was wollt ihr beiden denn?“, fragte die Eule, „ein Lufttänzer hat mich lange nicht mehr besucht.“

Luftikus stellte sich und Tina vor. Dann fragte er: „Weißt du, ob es Gespenster gibt?“ Wir haben schon ganz viele gefragt, keine wusste es sicher.“

Die Eule räusperte sich. Dann schaute sie ganz nachdenklich. „Gespenster, gibt es noch Gespenster?“, grübelte sie vor sich hin. Tina schaute Luftikus enttäuscht an. Wenn die Eule es nicht wusste, wer sollte es denn dann wissen?

„Nun, ich muss gestehen“, begann die Eule, „ich kann es euch auch nicht sagen. Im Zweifelsfasse: Nein. Also begegnet bin ich noch keinem.“

Luftikus und Tina sackten enttäuscht in sich zusammen.

„Na, na. Kopf hoch“, sagte die Eule. „Einen Rat kann ich euch geben. Die Menschen haben die Eigenart, viele Dinge, die sie wissen, in Bücher aufzuschreiben. Diese Bücher sammeln sie. Es gibt ganze Häuser voll von diesen Büchern. Die Häuser heißen Bücherei. Jeder kann dort hingehen und nachschlagen, was er wissen will. Dort solltet ihr hingehen.“

„Kannst du schon lesen, Tina?“, fragte Luftikus. „Ein bisschen“, antwortete Tina. „Dann lass uns schnell dorthin tanzen.“

„Danke, danke, liebe Eule“, rief Tina der Eule nach, als sie mit Luftikus bereits wieder die Baumwipfel erreicht hatte.

Es war ein weiter Weg zurück, doch Tina wurde nicht müde. Es war so aufregend, mit Luftikus durch die Nacht zu tanzen. Auf dem Weg zurück trafen sie über der Stadt wieder die große Nachtmotte. „Wir tanzen zur Bücherei“, sagte Tina zu ihr, „dort gibt es Bücher, die wissen, ob es Gespenster gibt oder nicht.“

„Oh, die Bücherei kenne ich gut“, sagte die große Nachtmotte, „ich weiß sogar einen Weg hinein. Soll ich euch begleiten?“

„Oh, ja!“, rief Tina begeistert.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr euch ja bei mir auf den Rücken setzen“, bot ihnen die Nachtmotte an. So setzten sich Luftikus und Tina auf den flauschigen Rücken der Nachtmotte. Sie konnte mit ihren großen Flügeln schneller vorankommen als Tina und Luftikus, wenn sie durch die Luft tanzten. Aber die Nachmotte war nicht die einzige Gestalt, die sie wieder trafen. Auch die Glühwürmchen kreuzten ihren Weg. Die Glühwürmchen wollten wissen, was Tina und Luftikus nun über Gespenster herausbekommen hatten. Beide erzählten von den Büchern, die die Menschen sammeln. Darinnen sollte stehen, ob es Gespenster gibt oder nicht.

„Wir kommen mit, wir kommen mit“, riefen die Glühwürmchen sofort. „Das ist gut“, meinte Luftikus, „ihr könnt dann für uns leuchten. Sonst kann Tina gar nicht in den Büchern lesen.“

Die Glühwürmchen waren nicht ganz so schnell wie die Nachtmotte, aber die große Nachtmotte nahm Rücksicht und flog langsamer.

„Da unten liegt die Bücherei“, sagte die Nachtmotte, als ein großes Gebäude in Sicht kam, „haltet euch fest, wir fliegen jetzt da herunter.“

Wie im Sturzflug flog die Motte jetzt hinab auf das Dach der Bücherei zu. Tina hatte sich gut festgehalten. Ihre Haare wehten weit nach hinten.

„Wie im Karussell“, rief sie Luftikus zu.

Durch eine geöffnete Dachluke gelangten sie in das Gebäude, flogen vom Dachboden in die tieferen Stockwerke. Hier setzte die große Nachtmotte Tina und Luftikus am Boden ab. Kurz darauf kamen auch die Glühwürmchen.

Hinter einer Glastür waren im Dunkeln große Regale mit Büchern zu sehen. Tina öffnete mit der Hilfe von Luftikus die schwere Glastür. Die Nachtmotte und die Glühwürmchen flogen mit hinein, als Tina und der Lufttänzer den Raum betraten. Es war ihnen unheimlich zumute. Der Raum war sehr groß. In der Mitte war ein Durchgang, an den Seiten standen große Bücherregale. Auf diesen Regalen standen viele, viele Bücher. Tina hätte noch gar nicht alle zählen können. Vorsichtig ging sie mit Luftikus durch den Raum.

Die große Nachtmotte war schon vorweggeflogen und setzte sich auf einen Tisch in der Mitte des Raumes. Die Glühwürmchen waren ganz neugierig und flogen durch die einzelnen Buchreihen. Dabei schüttelten sie mit den Köpfen. „Menschen haben schon merkwürdige Ideen“, meinten sie bei sich.

Als Tina und Luftikus den Tisch in der Mitte erreichten hatten, fragte die Nachtmotte: „in welchem Buch steht denn etwas über Gespenster?“

Tina zuckte mit den Achseln und sagte: „Davon hat die große Eule nichts gesagt.“

„Wie findet man sich denn hier zurecht?“, fragte Luftikus. Niemand wusste eine Antwort. Auch die Glühwürmchen nicht, die jetzt an den Tisch geflogen kamen. Da hatte Tina eine Idee. „Es muss doch Kinderbücher geben. Vielleicht sind da die Regale nicht so hoch.“

„Wir werden sie suchen“, meinte Luftikus. Jeder von ihnen find in eine Richtung, die Glühwürmchen, die Nachtmotte, Luftikus und Tina.

Es dauerte nicht lange, da rief Luftikus laut: „Hier sind ganz bunte Bücher und die Regale sind nicht so hoch. Aber ich kann nicht lesen, ob die Bücher für Kinder sind.“

Sofort kamen alle herbei. Tina stellte sich vor ein Regal und versuchte die Schrift darauf zu entziffern. „Für Kinder“, las sie dann ganz vorsichtig. „Hier sind wir richtig“, meinte die Nachtmotte dann. Mit Hilfe der Glühwürmchen suchten sie die Regale ab, ob ein Gespensterbuch da ist. Aber sie fanden keins. Dafür entdeckte Tina ein anderes Buch. Es hieß „Kinderlexikon“. Tina wusste nicht, was das war, ein Kinderlexikon, aber sie schlug das Buch einmal auf. Es war innen ganz bunt und mit vielen Bildern neben den Worten. Vielleicht stand hier etwas darüber, ob es Gespenster gibt. Die Glühwürmchen kamen ganz dicht, einmal, weil sie leuchten sollten und dann, weil sie sehr neugierig waren. „Lass uns die Bilder angucken“, meinte Luftikus, der nicht lesen konnte.

So begannen sie von vorn, alle Bilder anzusehen, ob irgendwo ein Gespenst zu sehen war. Es dauert eine ganze Zeit und Tina wollte schon aufgeben. Da rief die Nachtmotte: „Dort, dort in der Mitte, auf der linken Seite, ist das nicht ein Gespenst, die weiße Gestalt dort?“

Alle schauten auf die Mitte des linken Blattes. Tatsächlich, dort war eine weiße Gestalt zu sehen mit großen, schwarzen Augen. Im Hintergrund war ein Schloss.

„Du musst uns vorlesen, was daneben steht, Tina“, sagte Luftikus. Tina schaute ganz genau auf die Buchstaben neben dem Bild. „Gespenst“, sagte sie, „da steht ganz dick gemalt ‚Gespenst‘“. „Und daneben?“, fragten die Glühwürmchen.

Tina schaute wieder in das Buch. Sie schaute sich die einzelnen Worte genau an. Dann sagte sie: „Es steht dort: ‚Gespenster leben in alten Schlössern. Sie geistern nur in der Nacht, von Mitternacht bis es gell wird. Sie erschrecken alle, die sie treffen. Aber habt keine Angst, denn Gespenster leben nur in Geschichten. In Wirklichkeit gibt es keine Gespenster.“

„Da steht es! Es gibt keine Gespenster“, sagte Luftikus. „Wie schade. Es wäre lustig gewesen, einmal ein Gespenst zu treffen.“

„Ja, schade“, sagten auch die anderen. Tina klappte das Buch wieder zu und stellte es an genau dieselbe Stelle zurück, wo sie es entnommen hatte. „Und jetzt?“, fragte sie Luftikus etwas enttäuscht.

Luftikus wollte nicht, dass Tina traurig ist. Zum Glück hatte er auch eine Idee. Er nahm sein großes, weißes Tuch, das er um den Hals trug und warf es Tina über den Kopf. Es reichte Tina fast bis zu den Knöcheln am Bein. „Jetzt bist du ein Gespenst, Tina“, rief Luftikus. „Oh, ja“, Wir spielen Gespenst“, sagte Tine. „Versuch uns zu fangen, versuch uns zu fange“, piepsten die Glühwürmchen.

Tina konnte durch das Tuch nur schwer etwas sehen. Trotzdem machte sie sich gleich auf die Jagd und versuchte, die Glühwürmchen zu fangen. „Huh, huh“, rief sie, wie ein Gespenst. Tina jagte die Glühwürmchen, die Nachtmotte und Luftikus um die Bücherregale herum. Sie spielten Fangen und Verstecken. Dabei machten sie eine Menge Krach und hatten viel Spaß. Auch Luftikus kam einmal dran, Gespenst zu sein. Er jagte Tina dann durch die Bücherei. Tina konnte gar nicht so schnell laufen, weil sie immer lachen musste.

Nach einer Weile wurden alle müde. Tina gähnte.

„Jetzt bringe ich dich nach Hause“, sagte Luftikus zu ihr.

„Ich muss auch los“, sagte die große Nachtmotte. „Es wird bald Tag.“

Luftikus band sich sein Tuch wieder im den Hals. Auf dem Rücken der Nachtmotte gelangten Tina und Luftikus wieder aus der Bücherei heraus. Draußen auf dem Dach verabschiedeten sich Luftikus und Tina von ihren Freunden. Als die Glühwürmchen und die Nachtmotte davonflogen, winkte Tina ihnen hinterher. Dann nahm Luftikus sie bei der Hand und sie tanzten zu dem Haus von Tina zurück. „Jetzt bin ich aber müde“, sagte Tina zu Luftikus, als sie ihr Fensterbrett erreicht hatten.

„Schlaf schön“, sagte Luftikus zu ihr, als sie in ihr Bett geklettert war. „Und keine Angst vor Gespenstern.“ Er lachte und klingelte noch einmal mit den Glöckchen an seinen Füßen.

„Tschüs, Luftikus“, sagte Tina müde. Sie schlief sofort ein.

Luftikus tanzte durch die Nacht davon.

Anke Dittmann©

Da gab es dich auf einmal wieder

Als ich heute Nacht im Traum alles durcheinander geworfen habe, da gab es dich auf einmal wieder. Du hast mir Wein angeboten, doch es war Cola, in fremden Räumen mit schiefen Wänden.

„Das ist doch gar nicht deine Wohnung“, dachte ich noch. Mir gegenüber standst du in deiner bunten Regenjacke mit deinen dicken Lippen und einem breiten Lächeln. Du strecktest mir die Hand entgegen. Ich konnte sie nicht ergreifen.

Dann waren wir plötzlich an einem See mit vielen Menschen. Alle waren nackt, ich auch, du aber nicht. Deine Hand lag auf meinem Busen. Ich schämte mich. Du hast darüber gelacht.

Danach verschwammen die Bilder. Ich wollte dich gern wiedersehen, doch es gelang nicht.

Ich wachte auf. Die Decke hatte ich weggestrampelt wie ein Baby. Ich fror. Tastend suchte ich die Deckenzipfel. Ich wollte kein Licht machen, denn ich wollte den Traum nicht verlieren. Kaum war ich wieder zugedeckt, sank ich in den Schlaf.

Am Rand einer Tanzfläche sah ich mich, wartend, ob einer mit mir tanzen würde. Dabei hörte ich keine Musik. Vor mir bunte Drehungen. Und wieder du, plötzlich aus dem Verschwommenen heraus kamst du auf mich zu. Wir tanzten. Deine Hand, deine Hand, genau spürte ich sie auf meinem Rücken. Du hast nicht gesprochen, lächeltest nur mit deinen dicken Lippen. Nach dem Tanz führtest du mich heraus aus dem Saal, irgendwie, irgendwohin. Nah vor mir standst du, vertraut. Ich wollte dich küssen. Da verschwammen die Bilder. „Nein!“, schrie ich stumm. Weg warst du.

Wieder erwachte ich. Noch genau fühlte ich deine Hand auf meinem Rücken. Ich hielt es nicht aus. Ich umarmte die Decke und wünschte, sie wäre du.

Ich konnte nicht wieder einschlafen, schaltete das Licht an, stand auf, ging umher, setzte mich, schaute durch das Fenster auf die leere Straße, stand wieder auf, ging umher, trank einen Schluck.

Mir war kalt, eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Es sah eklig aus. Ich rieb mit den Händen meine Arme. Es waren meine Hände nicht deine, die mich streichelten. Ich hasste dich dafür.

Ich ging wieder zu Bett. Schlaflos lag ich im Dunkel, versuchte an anderes zu denken. Gegen Morgen schlief ich ein, kurz bevor ich aufstehen musste. Wie gerädert fühlte ich mich, als der Wecker klingelte und das Radio anging. Die Nachrichten rauschten an mir vorbei. Alles war eine Qual. Irgendwie saß ich dann doch noch zeitig im Auto, fuhr los, arbeiten.

Als ich mein Auto auf dem Parkplatz abschloss und mich umdrehte, standst du auf einmal da.

„Ein Traum“, dachte ich.

„Hallo“, sagtest du und gabst mir nicht die Hand. „Geht´s gut?“

Ich nickte.

„Habe dich zufällig gesehen“, sagtest du. „Wollte nur mal ‚Guten Tag‘ sagen. Meine Freundin wartet dahinten.“ Du zeigtest irgendwohin. Ich sah nur das breite Lächeln deiner dicken Lippen.

Ich wusste nichts zu sagen.

Auf einmal warst du weg. Ich stand allein und sagte: „Guten Tag.“

 

© Anke Dittmann

So ein Zufall

Worte der Kinder für die Geschichte für die 3.Klasse an der Grundschule Ratekau

Auto, Straße, Maus, Oleg, Haus, fahren, Schule, Hausaufgaben, Kaninchen, Hund, Spiel, Würfel, Handball, Käse, Banane, Handgranate, Kreuz, Maschinengewehr, Fußball, Atombombe, Eis, Hamster, Eichhörnchen, Pferd, Bombenwerfer, Panzerfaust, Schwert, Tod

So ein Zufall                                                         

Nur widerwillig hatte sich Mats ins Auto gesetzt, denn jetzt hieß es endgültig Abschied nehmen. Warum musste sein Vater sich auch einen anderen Job suchen und dann noch in einer so weit entfernten Stadt! Mats wollte nicht umziehen. Aber er war ja nicht gefragt worden. Es sei gerade günstig, hatte seine Mutter gesagt, da er ja nach der vierten Klasse sowieso die Schule wechseln würde. Er wäre aber viel lieber mit seinen Kumpels zusammen in die Gesamtschule gegangen. Das war echt ein harter Abschied gestern Abend von seinem besten Freund Oleg. Geweint hat natürlich keiner, sie sind ja beide harte Jungs, aber schwer geschluckt haben sie und sich versprochen, ihr Leben lang in Kontakt zu bleiben.

Ihre alte Wohnung lag jetzt schon weit hinter ihnen. Sie hatten die Landstraße verlassen und fuhren nun am nächsten Straßenkreuz auf die Autobahn. Seine Mutter fragte Mats, ob er etwas essen möchte und reichte ihm eine Banane. Aber Mats fühlte sich eher so, als hätte ihm gerade jemand ein Schwert in die Magengegend gerammt. Eine Banane wäre jetzt sein Tod. Er winkte ab.

„Ich freue mich auf unser neues Haus“. Mit diesem Satz versuchte seine Mutter die Stimmung im Auto zu heben, denn sie waren alle traurig. „Dein neues Zimmer, Mats, ist ja viel größer als das in der Wohnung.“

„Hm!“, grummelte er nur und nickte. Klar, das neue Zimmer war klasse und aus der Wohnung in ein kleines Reihenhaus zu ziehen, war mehr als okay. Aber, warum musste es so weit weg sein!

Mittlerweile waren sie schon zwei Stunden auf der Autobahn und sein Vater fuhr an die nächste Raststätte, Pause und Fahrerwechsel.

Mats bummelte mit seinen Eltern durch den Shop bei der Tankstelle. „Such dir etwas aus“, hatte sein Vater gesagt, um ihn aufzumuntern. Mats schlenderte beim Plastikspielzeug vorbei. Von seiner Stimmung her hätten jetzt ein Maschinengewehr oder besser noch eine Panzerfaust gut gepasst, weil er in sich so wütend war und traurig. Aber es gab nur eine Gummihandgranate. Und Mats wusste, das war eigentlich alles Quatsch und hier viel zu teuer. So entschied er sich für ein kleines Würfelspiel. Der Umzug war auch ganz schön teuer gewesen und er wusste, dass das Geld noch knapp war, trotz des neuen Jobs. Seine Eltern kauften eine Sportzeitung, denn sein Vater war ein Handballfan, und ihm kauften sie noch ein Eis. Er aß es, obwohl er keinen Hunger hatte.

Als sie zum Wagen zurückgingen, entdeckte Mats einen großen Hund, der an einem Laternenpfahl angebunden war. Er hatte ein langes schwarzes Fell und sah ganz niedlich aus. Als der Hund Mats bemerkte, stellte er die Ohren auf. Am liebsten wäre Mats auf den Hund zugegangen und hätte ihn gestreichelt. Aber Mats wusste, bei Hunden muss man vorsichtig sein, man weiß ja nie. Ob ihn vielleicht jemand vergessen hatte oder ausgesetzt? Manche Menschen sind ja so gemein. Wenn ihn jemand ausgesetzt hat, könnten sie ihn vielleicht mitnehmen? Mats begann zu träumen. Wie schön wäre es, wenn er den Hund mitnehmen könnte. Dann wäre er nicht so allein in der neuen Umgebung.

„Du kannst ihn gern streicheln“, sagte da auf einmal eine Stimme hinter ihm. Mats fuhr zusammen. „Also er ist eigentlich eine sie und ganz lieb. Sie hat noch niemandem etwas getan.“ Mats dreht sich zu der Stimme um. Sie stammte von einem Jungen etwa in seinem Alter. Ohne zu antworten näherte sich Mats vorsichtig der Hündin und streichelte sie. Sie legte ihren Kopf dabei ein Stück zur Seite in seine Hand. „Sie mag dich“, sagte der Junge. „Jetzt müssen wir leider weiter, sonst hätten wir noch zusammen mit ihr spielen können.“

Mats nickte, aber sagte nichts. Schade, dachte er nur.

Als sie wieder weiterfuhren, fragte er seine Eltern: „Kann ich einen Hund haben?“ „Um Gottes willen“, rief da seine Mutter. „Du weißt doch, Papa hat eine Tierhaarallergie.“ Ach ja, daran hatte er nicht mehr gedacht, deshalb war ja schon sein Wunsch nach einem Hamster oder einem Kaninchen gescheitert. Und weiße Mäuse hatte Mama ihm verboten. Es hatte sich wohl alles gegen ihn verschworen.

Missmutig schaute Mats aus dem Fenster. Noch weitere zwei Stunden würde die Fahrt dauern, bis sie ihr neues Zuhause erreicht haben würden. Zuhause? Nein, noch konnte Mats sich das nicht vorstellen. Gern hätte er Oleg jetzt an seiner Seite gehabt, aber der war weit weg.

Sein Vater schaltete das Autoradio an. Nachrichten und Verkehrsstudio wollte er hören. Ein Stau – das hätte jetzt gerade noch gefehlt. Von den Nachrichten hörte Mats hinten im Auto nur Wortfetzen „Iran“ und „Atombomben“ und von irgendwelchen Bombenwerfern in Kriegsgebieten. Erst beim Fußball horchte er auf, denn bald begann die Europameisterschaft und er war ein echter Deutschlandfan. Aber noch gab es nichts Spannendes zu berichten.

Endlich erreichten sie ihr Ziel. Nienburg, sein neues Zuhause. Ihr Reihenhaus war am Stadtrand, fast im Grünen. Mats brachte seine Sachen nach oben in sein Zimmer. Im Haus war alles frisch renoviert. Das war einerseits schön und doch zugleich noch kühl und fremd. Mats schaute aus dem Fenster. Das Grundstück grenzte an eine Weide, auf der Pferde standen, und auf dem Baum im Garten entdeckte er ein Eichhörnchen. Und neben an? Was war das?

Mats traute seinen Augen nicht. Das gab es doch nicht. Sofort rannte er die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, öffnete die Terrassentür und sprang fast an den Nachbarszaun. Da lag ein großer schwarzer Hund mit langem Zottelfell. Als Mats erstaunt: „Hallo“ hinüber rief, als könnte ihm der Hund antworten, spitzte dieser die Ohren und kam an den Zaun gelaufen. Mats war sich ganz sicher, dass er keine Angst haben müsse. Er griff durch den Zaun durch und graulte den Hund, der seinen Kopf in seine Hand neigte.

„ Hey, ich glaub es nicht!“, rief da eine Stimme, die er heute schon einmal gehört hatte. „Ihr seid unsere neuen Nachbarn?“ Der Junge kam an den Zaun gelaufen. „Das wäre ja klasse, denn hier in der Reihe sind nicht so viele Kinder. Ich heiße Nico.“ Nico reichte ihm die Hand. “Mats“, sagte Mats und schlug ein. Dann lachte er. So ein Zufall.

Wenig später trafen sich alle im Garten. Die „Nicofamilie“ und die „Matsfamilie“. Und schon am ersten Abend war Mats nicht allein, sondern er erkundete mit Nico und dessen Hündin Sally die Umgebung. Nico kam auch auf die Schule, die er jetzt besuchen würde, dann könnten sie sogar zusammen Hausaufgaben machen. Viel wichtiger war es aber, dass Mats sich nicht mehr allein fühlte. Nach dem Spaziergang spürte er, wie groß sein Hunger war und er verschlang geradezu das Käsebrot, das seine Mutter ihm gemacht hatte. Und morgen? Morgen würde er alles Oleg am Telefon erzählen und dann mit Nico und Sally den Ort erkunden.

©Anke Dittmann 10.06.2012

Getragen

(zu Mt 4,5-7)

Es war einmal Jemand allein zwischen vielen Mächten und zwischen vielen Menschen. Jemand lebte in einem Hochhaus jeder Stadt. Er fand sich nicht mehr zurecht, konnte nichts mehr richtig entscheiden. Jemand wusste nicht mehr weiter.

Er verließ seine Wohnung und ging den Flur entlang Richtung Fahrstuhl. Doch diesmal benutzte Jemand die Nottreppe neben dem Fahrstuhl. Stufe für Stufe stieg er über die Stockwerke empor bis zum Dach. Erschöpft stand Jemand oben.

Das Bild war überwältigend, neu. Jemand besah sich alles in Ruhe mit dem nötigen Abstand aber auch mit Angst vor allem „da unten“. Und die Angst besiegte Jemand.

Jemand näherte sich dem Rand des Daches. Er schaute hinab. Dabei kam ihm der Satz in den Sinn, wo der Teufel auf der Tempelzinne zu Jesus spricht: „Spring und die Engel werden dich auf Händen tragen.“

Jemand lachte, weil es doch solch ein Unsinn war. Dann klagte er Gott an, warum er nie da sei, wo er gebraucht würde. „Fang mich doch auf, wenn du bist“, versuchte Jemand Gott.

Doch aus irgendeinem Grund sprang Jemand nicht. Er stand lange da und starrte hinab. Dann setzte er sich auf das Dach und weinte. Zwei Dacharbeiter fanden ihn später. Sie nehmen in zwischen sich, legten jeder einen Arm von Jemand um ihre Schulten und setzten ihn auf ihre verschränkten Hände. So trugen sie Jemand auf ihren Händen zum Fahrstuhl und brachten ihn zurück in seine Wohnung. Dort versorgten sie Jemand, bis er sich wieder kräftiger fühlte.

Eines Tages stand ich vor einem Abgrund. Ich schloss die Augen und fühlte schon, wie ich fiel. Immer tiefer. Es hielt mich nichts auf. Plötzlich aber stieß ich an etwas. Ich öffnete die Augen und war noch am Leben. Jemand hatte mich in seinen Händen gehalten.

 

 

Anke Dittmann©

Der alte Pullover

 

Ich räumte meinen Kleiderschrank auf. Das kam selten vor. Aber er platzte aus allen Nähten, und so wollte ich Altes aussortieren. Berge von Klamotten holte ich aus dem Schrank heraus, warf alles auf den Boden vor dem Spiegel. Im Zweifelsfall wollte ich ein Kleidungsstück noch einmal anprobieren. Das Sortieren ging schneller, als ich dachte. Das war doch einiges zu altmodisch und einiges zu klein. Das kam alles in einen Altkleidersack.

Jetzt griff ich in den Pulloverhaufen. Ich breitete einen Pulli mit beiden Händen aus und besah ihn mir genau. Er war hübsch. Rot, mit weißen Streifen und einem großen Kragen. Zwar völlig aus der Mode aber hübsch. Leider viel zu klein.Ich hielt ihn vor dem Spiegel vor meinen Körper. Wie alte mochte der Pullover wohl sein? Als ich das überlegte, wusste ich es auf einmal genau.

Er war zehn Jahre alt. Ja, der Pulli war es.

Jetzt hielt ich ihn aufgeregt. Den hattest du an, sagte ich zu meinem Spiegelbild.Ich zog sofort meine Bluse aus und den Pullover an. Es sah verheerend aus. Ist es schon so lange her? dachte ich. Unter den Achseln zwickte der Pulli, doch ich behielt ihn trotzdem an. Auf einmal waren mir alle anderen Kleidungsstücke egal. Ich ließ sie auf dem Boden liegen, stieg über sie hinweg und setzte mich auf das Sofa. Erinnerung hatte mich überwältigt.

Damals trug ich zu dem Pulli eine Jeans, eine sehr enge.Es war in einer Diskothek auf dem Dorf. Die Stimmung war gut, es war eine Menge los und es war dunkel. Du warst auch da, alter Freund. Wer weiß, wo du jetzt bist. Damals warst du zumindest da, und ich war unsterblich in dich verliebt. Es war nicht das erste Mal, dass ich es satthatte, brav neben dir zu sitzen. Alle Kraft nahm ich damals zusammen, um dir zu sagen: Ich habe dich lieb. Zuerst waren wir beide hilflos. Dann gabst du mir den schönsten Kuss meines Lebens.

Ich strich mit meinen Händen sanft über den Pullover. Es kribbelte überall in mir. Dabei war es doch schon so lange her. Es war ein wunderschöner Abend damals. Doch hielt es mit uns danach nicht sehr lang.

Ich stand auch und ging wieder vor den Spiegel. Ich trug damals diesen Pullover. Doch es war vorbei. Als ich das dachte, sah ich wieder, wie unmöglich der Pulli heute an mir aussah. Es ist vorbei, der Pulli kann weg, sagte ich laut zu mir. Ich zog ihn aus und steckte ihn in den Altkleidersack.

Dann räumte ich weiter auf. Doch jetzt war ich hektisch, bei vielen Stücken unschlüssig. Es brachte keinen Spaß mehr. Schließlich schaffte ich es doch noch, alle Kleiderberge sortiert in den Schrank oer unsortiert in den Sack zu packen. Doch ich blieb unruhig. Es wurde dunkel draußen. Der zugebundene Sack stand im Flur. Ich saß im Wohnzimmer und lauschte bei einer Zigarette sanfter Musik. Das wirkte alles andere als beruhigend.

Endlich gestand ich es mir ein. Ich stand schnell auf, rannte auf den Flur, durchwühlte den Altkleidersack, bis ich ihn in Händen hatte, in Sicherheit.

Meinen alten Pullover. Wie konnte ich nur…?

Ich rieb die Wolle an meinem Gesicht. Ich wurde wieder ruhiger. Dann packte ich den Pulli in meinen Schrank. Für ihn wird dort immer Platz sein.

 

Anke Dittmann ©

Ein alte Frau

Eine alte Frau liegt im Sterben. Meistens ist sie geistig da, doch manchmal tüttelt sie schon etwas. die Frau wird von Menschen gepflegt, die es schwer haben, ihr immer Verständnis entgegen zu bringen. Man steht einfach hilflos vor ihr.

Ich komme von draußen herein in ihr Zimmer. Draußen war es kalt und hier ist es schön warm.

Auch ich steht vor ihr und weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Sie kann nur noch liegen und ich kann noch alles tun.

Ich setze mich auf den Rand ihres Bettes und erzähle ihr etwas. Ab und zu nickt sie mit verständig zu. Ich lege meine kalte Hand in die ihre. Dabei denk ich: „Arme, alte Frau, du kannst nichts mehr tun.“ Sie aber blickt mich an und murmelt: „Gleich, Kind, habe ich deine Hand wieder aufgewärmt.“

 

 

Anke Dittmann ©

Abschied nehmen

 

Es ist Zeit, Abschied zu nehmen

Ich dachte, dass es mir im Winter leichter fallen würde, das Abschiednehmen. Wenn die Welt nicht aufblüht und die dunkle, kalte Zeit Leben auslöscht. Doch ist Abschied auch im Winter schwer.

In einigen Tagen oder Wochen wird alles vorbei sein. Wie oft darf ich bis dahin noch frische Luft schnappen, das Leben draußen riechen? Wie lange werde ich noch Wärme und Kälte spüren, Licht und Dunkel unterscheiden können?

Man bemüht sich um mich. Viele hoffen auf ein Wunder, auf Rettung. Sie beten. Ich habe aufgehört zu hoffen. Ich habe Schwierigkeiten, zu beten. „Danke Vater, dass ich wenig Schmerzen habe durch die Hilfe der modernen Medizin“, das geht nicht über meine Lippen.

Wenn ich bete, ist es eher ein Aufschrei: „Warum soll ich so früh sterben?“ Ein Aufschrei ohne Antwort. Doch schreie ich schon weniger. Ich will meine Zeit zum Abschiednehmen nutzen. Ich will mich arrangieren mit meinem Tod.

Meinem Mann habe ich gesagt, er soll sich das Lachen nicht abgewöhnen. Seine Fröhlichkeit fehlt mir hier im Krankenhaus sehr. Auch will ich wissen, dass er sie nach meinem Tod noch besitzt.

Wir haben schöne Jahre zusammen gehabt. Er soll sich eine andere nehmen, wenn ich nicht mehr bin. Er ist noch so jung und gesund. Kinder wünscht er sich so sehr. Ich will ihn glücklich wissen. Doch habe ich Angst, dass er eine andere mehr liebt als mich. Dabei wäre es doch egal. Freigeben werde ich ihn. Unsere Beziehung beenden mit dem Ende meines Herzschlags. Ein Abschied, der ihm Leben eröffnet. Wird es für mich ein zweites Leben geben?

Ich werde für einige Minuten auf den Balkon geschoben. Es war mein Wunsch. Er wurde erfüllt. Viele Wünsche, ganz banale, werden mir jetzt erfüllt. Jeder will mir noch etwas Gutes tun.

Ich werde die Bäume nie wieder grün sehen. Die Blumen werden für mich nicht mehr blühen. Ich werde keinen Sommer mehr erleben, keinen Urlaub mehr machen, die ewige Stadt nicht mehr besuchen. Meine Sommerkleider werde ich nicht mehr tragen, sie wären auch viel zu weit. Früher habe ich mir immer gewünscht abzunehmen. Jetzt wiege ich nur noch die Hälfte von damals, 70 Pfund. Damit ist man auch keine Schönheit.

Länger darf ich nicht draußen bleiben.

Ich genieße meine kalte Nase. Sie zeigt mir, dass ich noch empfinde, lebe.

Ich fühle mich erschöpft. Schlafe einige Minuten. Stark muss ich sein für nachher. Dann kommt mein Mann. Gestern waren meine Eltern mit ihm hier. Sie können nicht Abschiednehmen von mir. Sie haben auch nicht die Zeit dazu. Sie sind ja noch voll im Leben.

Ich habe jetzt Zeit, mich mit dem zu befassen, was jede Sekunde sein kann.

Am Anfang, als mein Tod feststand – er steht eigentlich für jeden fest, nur, dass er so bald sein soll nicht – wollte ich noch alles tun, was ich sonst nie geschafft habe: Bestimmte Bücher lesen, bestimmte Leute besuchen, bestimmte Dinge lernen. Natürlich war das alles Quatsch.

Die Bücher bleiben ungelesen, die Leute besuchen mich jetzt hier, alles Weitere nützt eh nichts mehr. Soweit hat das Abschiednehmen funktioniert.

Mit dem Träumen ist es schon schwieriger. Ich arbeitete an einem Bild, das mir seit Jahren im Kopf herumschwirrte. Es bleibt unvollendet. Ich wäre eine große Malerin geworden, in meinen Träumen war ich das immer. Wir, mein Mann und ich, wollten noch einige Jahre ins Ausland. Später wollte ich in einem alten Haus wohnen. Klavierspielen. Mit ihm alt werden.

Mein Mann macht mir ein Abschiednehmen unmöglich. Meine Eltern haben sich noch, meine Geschwister sind nicht allein. Nur er bleibt allein zurück mit meinem unvollendeten Bild. Ich werde ihn nie mehr fröhlich sehen. Nie.

Jetzt, wo ich mir Zeit nehme zum Abschiednehmen, fallen mir viele Dinge ein, auf die ich verzichten kann. Erschreckend viele. Je näher ich meinem Tod komme, desto weniger wird für mich wirklich wichtig.

Doch das, was mir wichtig bleibt, verhindert, dass ich meinen Tod annehmen kann. Wir haben und bereits eingestanden, dass wir alles nicht mehr ertragen. Wir haben so viel zusammen geweint, dass mir Lachen fremd ist. Ich wünschte, ich könnte ihn bald befreien. Für ihn will ich sterben. Ihm die Last nehmen, das Zittern, die Quälerei. Ich will tot sein für ihn. Heute schon.

Heute, wenn er kommt, werde ich Abschied nehmen. Wenn er aus dem Zimmer gegangen ist, will ich nicht mehr sein. Das ist das Einzige, was ich noch für ihn tun kann. Das ist mein letzter Wunsch. Er wird zu meinem ersten ruhigen Gebet seit langem.

 

 

Anke Dittmann ©

Echte Freunde

 

Peter, der von seinen Eltern Pit genannt wurde, hatte es nicht leicht.  Er war ein unscheinbarer Typ. 08/15 sozusagen. Wenn er nicht laut aufschrie oder mit bunten Fähnchen in der Hand wedelte, übersah man ihn einfach. Und Pit schrie nicht laut auf und bunte Fähnchen hatte er auch nicht bei sich, in der Schule etwa, damit die Lehrer ihn endlich mal beachten würden, wenn er sich meldete. Dabei täte es ihm aber gut, da er sich nicht allzu oft meldete. Wenn man dann noch übersehen wird, … naja, ihr wisst schon, dann ist die Zensur am Ende nicht wirklich gut.

Peter war dieser Zustand lange Zeit egal. Er war zwar nicht glücklich, aber er kannte es ja auch nicht anders. Außerdem hatte er seinen besten Freund, den Kater Charley, und mit seinen Eltern kam er auch prima klar.

Aber alles änderte sich, als er in der vierten Klasse war. Mitten im Schuljahr, kurz nach den Weihnachtsferien, kam ein Mädchen neu in seine Klasse. Und was für ein Mädchen!

Doch zuvor geschah schon etwas. Das Mädchen zog zwei Häuser neben Pits Familie ein. Am Tag des Einzugs sah Pit, wie das Mädchen einen schweren Koffer ins Haus tragen wollte. Dabei stolperte es über den Kantstein. Der Koffer schlug auf und alle möglichen Dinge kullerten über den Bürgersteig. Pit lief sofort hin, um zu helfen und sammelte einige der Dinge wieder ein. Handschellen zum Beispiel und eine Zeitschrift über „Monster der Tiefsee“. Das hatte er bei dem Mädchen gar nicht vermutet. Eher Schminke oder so was. Merkwürdig!

„Hast du den Koffer von Jonas dabei?“, rief dann eine Stimme von drinnen.

„Mein kleiner Bruder“, erklärte das Mädchen, „sind seine Sachen.“

„Aha“, sagte Pit schnell, gab ihr die Sachen und verschwand.

„Danke“, rief das Mädchen hinterher, „ich heiße übrigens Julia.“

Doch Pit war schon weg.

Noch nie hatte er ein Mädchen mit so schönen langen welligen dunklen Haaren gesehen. Sie war wirklich hübsch und nett war sie auch. Sie hatte sich immerhin bei ihm bedankt.

Am nächsten Tag kam Herr Morwitzki, Pits Klassenlehrer, mit dem Mädchen in die Klasse. Pit traute seinen Augen nicht.

Alle umringten das Mädchen sofort, alle, außer Pit, der blieb wie angewurzelt auf seinem Platz sitzen. Herr Morwitzki stellte die neue Mitschülerin vor und fragte dann: „Julia, wo möchtest du gern sitzen, bei Sarah hier vorn ist noch ein Platz oder bei Tom in der zweiten Reihe oder bei Lennard dort hinten.“

In dem Moment sah Julia Pit und sagte: „Ich möchte gern bei dem Jungen da sitzen“, und zeigte ungeniert mit dem Finger auf Peter. Er zuckte zusammen und es ging ein Raunen durch die Klasse.

„Gut“, sagte Herr Morwitzki, „bei Peter ist auch noch Platz, wenn du willst.“ „Ich will“, sagte Julia mit fester Stimme und nahm Platz. Alles drehte sich zu den beiden um. Pit wurde rot und murmelte Julia etwas zu, was wohl „Hallo“ heißen sollte.

Julia mochte Pit, weil er ihr geholfen hatte. Sie dachte, dass er bestimmt ein netter Kerl sei und keiner von den Jungs, die Mädchen einfach „Tussies“ nennen, weil ihnen nichts Besseres durch den Kopf geht.

In der ersten Pause kam Mirko zu Julia. Er hatte noch mehrere Jungs um sich, die ihm anscheinend überall hin folgten. „Ich bin der Klassensprecher“, sagte er, „wenn du Hilfe brauchst oder Fragen hast oder jemand dich ärgert… einfach zu mir kommen.“

„Okay, danke“, antwortete Julia und suchte schon wieder mit den Augen nach Pit.

Sie merkte schnell, dass Peter in der Klasse außen vor war. Er war so ruhig und bescheiden. Er setzte sich nicht durch und traute sich nicht, sich zu melden. Dabei wusste er eine ganze Menge, das hatte sie neben ihm rasch verstanden.

Peter freute sich, dass Julia neben ihm saß und dass sie den gleichen Schulweg hatten. Und Julia veränderte ihn. Wenn er in der Schule etwas wusste, wies sie den Lehrer darauf hin und Pit konnte zeigen, was er konnte. Beim Fußballspielen feuerte sie ihn an und schon bald war er der Torschützenkönig der Klasse. Gemeinsam machten sie Hausaufgaben oder Pit zeigte ihr mit dem Fahrrad die Umgebung. Und sie besuchten einander oft.

„Mit Charley musst du aufpassen“, warnte Pit, „der hat nur zu mir Vertrauen und verteidigt alle meinen Sachen. Außerdem ist er ein Räuber. Letztes Jahr hat er Papa alle Fische aus dem Gartenteich gefischt. Der war ganz schön sauer.“

Pit wurde durch die Freundschaft mit Julia ein glücklicher, fröhlicher Junge. Aber einem in der Klasse passte das gar nicht und das war Mirko, der Klassensprecher. Auf einmal sprachen alle nur noch von Pit und Julia. Pit dem Mathegenie, Pit dem Fußball-As. Außerdem gefiel Mirko die Julia auch, aber die interessierte sich nur für Pit und die anderen Mädchen. Er würde Pit schon einen Denkzettel verpassen.

In der Pause fing er an, sich über die beiden lustig zu machen. „Da ist ja wieder unser Liebespärchen“, flötete er so laut, dass alle es hören konnten, „Pit und Julia sind verliebt.“

„Lass ihn reden“, sagte Julia zu Pit, der schon eine Faust formte mit seiner rechten Hand.

„Na, Pit“, forderte Mirko ihn weiter heraus, „du siehst ja ganz schön wütend aus. Wirst schon ganz rot. Sieht ziemlich hässlich aus.“

„Halt den Mund, Mirko“, rief Julia zurück, „bist ja nur neidisch.“

„Neidisch, auf den Feigling?“, rief er laut zurück.

Da konnte Pit nicht mehr an sich halten und ging auf Mirko los. Darauf hatte der gewartet. Mirko war ein guter Kämpfer und landete gleich einen Schlag in Pits Gesicht. Pit bekam Nasenbluten und Mirko verdrückte sich schnell.

Herr Morwitzki, der Pausenaufsicht hatte, hatte den Vorfall nicht gesehen, sah aber Pits blutende Nase. „Was ist passiert?“, wollte er wissen.

„Bin hingefallen“, log Pit und ging zum Sekretariat, um ein Kühlkissen zu holen. Julia begleitete ihn. „So ein Schuft“, sagte sie, „und so einer ist Klassensprecher.“

Mirko war das aber noch nicht genug. Eine Woche später hatte er einen ganz schlechten Tag, denn er hatte seine Mathearbeit verhauen. Und Pit, der hatte eine „1“, Julia auch, aber er hatte nur eine „4 minus“.

Aus einem Gespräch in der Pause hatte er aufgeschnappt, dass Pits Eltern ein paar Tage weggefahren waren und Pit bei Julia mit übernachten durfte. Da fasste er einen Plan, um Pit noch mal eins auszuwischen.

Als es dunkel wurde, schlich Mirko sich aus seinem Zimmer und ging zum Haus von Peter. Er kletterte über den Zaun in den Garten. Er wusste, dass Pit sein Fahrrad immer hinter dem kleinen Schuppen abgestellt hatte. Das hatte er die Tage zuvor noch beobachtet. Jetzt wollte er ihm die nächste Radtour mit Julia vermiesen. Er hatte einige Reißzwecken dabei und wollte sie in den Reifen drücken. Außerdem wollte er den Lenker lockern.

Doch kaum machte er sich an dem Fahrrad zu schaffen, da sprang ihm auf einmal eine Katze in den Nacken. Es war Charley, Pits Kater, der oben auf dem Baum gesessen hatte, als würde er alles bewachen. Charley jaulte fürchterlich und Mirko schrie auf, da die Katze ihn blutig kratzte.

„Was ist denn da los?“ fragte sich Julia in ihrem Zimmer, ging nach nebenan ins Gästezimmer und weckte Pit. „Ich glaube, es ist irgendwas mit deiner Katze. Lass uns mal nachsehen.“

Zuerst schauten sie aus dem Fenster, von Julias Zimmer aus war ein Stück vom Garten bei Pit zu sehen. Und da konnten sie Mirko schon erkennen.

„Schau an, Mirko macht sich am Fahrradschuppen zu schaffen.“ Pits Stimme klang wütend.

„Aber schau nur“, fiel ihm Julia ins Wort. „Charley ist besser als jeder Wachhund.“

„Wir müssen ihn erwischen.“ Schon zog Pit sich die Schuhe an.

„Ich hole die Handschellen von Jonas. Wir fangen Mirko und binden ihn an den Wäschepfahl“, schlug Julia vor.

„Hast du irgendwo eine Lampe?“, wollte Pit wissen und Julia warf ihm eine Taschenlampe zu.

Schon rannten beide die Treppe hinab, die Handschellen fest in Julias Fingern. Die Eltern saßen noch im Wohnzimmer. „Wo wollt ihr denn noch hin?“, fragten sie.

„Pit hat drüben etwas Wichtiges vergessen, wir sind gleich wieder da“, rief Julia und beide waren aus dem Haus, bevor die Eltern antworten konnten.

Sie teilten sich auf, denn sie wollten Mirko in die Zange nehmen. Pit würde von hinten kommen und Julia von vorn. Außerdem hatten sie ja Charley noch auf ihrer Seite.

Mirko erschrak, als er, noch mit der Katze kämpfend, auf einmal Julia vor sich sah. Als er sich umdrehte und davonlaufen wollte, lief er Pit in die Arme. Eine Rangelei begann. Diesmal war aber Pit der, der vorbereitet war und überlegt handeln konnte. Er stieß Mirko in den Gartenteich. Als der mühsam wieder herauskletterte, nass und voller Teichgrün, griff Julia sich gleich einen seiner Arme. Die eine Handschelle schnappte darum zu und die zweite beim Wäschepfahl, wie geplant.

Mirko fluchte, schimpfte und tobte.

Julia und Pit setzten sich in einigem Abstand ruhig auf den Rasen.

„Was meinst du Pit, wenn der weiter so rumschimpft, kriegt er bestimmt noch Schaum vor dem Mund, oder?“ Julia lachte. Pit grinste über das ganze Gesicht.

Nach einer Weile leuchtet Pit Mirko mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht und fragte: „Nun sag schon Mirko, was hattest du hier vor? Wolltest du mein Fahrrad klauen?“

Mirko sagte nichts mehr. Ihm wurde kalt. Er war ja klitschnass.

„Wir sollten Charley noch einmal auf ihn hetzen“, schlug Julia im Scherz vor. Aber Mirko fand das gar nicht lustig.

„Wollt ihr mich jetzt die ganze Nacht hier sitzen lassen?“, fragte er.

„Gute Idee!“ meinte Pit. Aber als er sah, wie sehr Mirko fror, tat er ihm fast leid. „Ich geh mal ein Handtuch holen“, sagte er dann zu Julia und verschwand im Haus.

„Danke!“, sagte Mirko leise, als Pit ihm das Handtuch reichte. Dann zog er mit der freien Hand Schuhe und Socken aus. Die Schuhe waren ganz voller Wasser und seine Füße waren eiskalt.

„Ich reib dir mal die Füße warm“, schlug Julia vor, „du wirst ja krank sonst.“

„Wollt ihr mich nicht mal losmachen?“, jammerte Mirko.

„Erst, wenn du genau erzählst, was du hier vorhattest.“ Pit blieb in der Sache hart.

Da erzählte Mirko seinen Plan mit den Reißzwecken im Reifen und dem losen Lenker.

„Mensch, da hätte Pit ja schlimm stürzen können.“ Julia war richtig sauer. „Was für eine fiese, gefährliche Idee!“

Mirko ließ den Kopf hängen. Fast weinte er. Nun war alles schiefgegangen.

„Warum machst du denn so was, Pit hat dir doch gar nichts getan?“, fragte Julia.

„Ach, alle reden nur noch von Pit. Meine Freunde auch, außerdem bist du nur mit Pit zusammen, alle anderen in der Klasse sind dir egal. Mich hat das genervt“. Mirko sprach jetzt ganz leise.

„Das ist alles?“ Julia war erbost. „Nur deshalb machst du hier so einen Blödsinn?“

„Was machen wir denn jetzt mit ihm?“, fragte Pit laut. „Wenn wir ihn die Nacht hierlassen, ist er morgen krank. Wir müssen ihn nach Hause bringen.“

„Da können wir meine Eltern fragen. Wir sagen einfach, Mirko ist in den Teich gefallen und wir mussten ihm heraushelfen, das wird schon gehen. Wir können natürlich auch die ganze Geschichte erzählen, wenn es dir lieber ist, Mirko?“ Sie schaute ihn fordernd an.

„Bloß nicht!“, antwortete Mirko.

„Dann musst du uns aber etwas versprechen.“ Pit sprach mit fester Stimme. „Lass uns einfach in Ruhe.“

Mirko wusste, dass er verloren hatte. Er versprach Pit und Julia, sie von nun an nicht mehr zu ärgern. Sie ließen Mirko frei und brachten ihn zu Julias Eltern.

„Tatsächlich?!“, wunderten die sich, als Pit erzählte, dass Mirko bei ihnen in den Teich gefallen sei. Aber sie fragten nicht lange nach, sondern brachten Mirko sofort nach Hause.

Bevor er aus dem Haus hing, wandte er sich noch einmal zu Pit und Julia um und sagte: „Danke.“ In seinen Augen stand die Bitte, niemandem zu erzählen, was heute Nacht wirklich geschehen war.

Pit und Julia saßen noch einen Moment zusammen, bevor sie schlafen gingen.

„Ich glaube, wir müssen Mirko helfen“, meinte Julia.

„Ich könnte mit ihm Mathehausaufgaben machen“, schlug Pit vor.

„Und ich werde auch ihn mal beim Fußball anfeuern, ist das okay?“, fragte Julia ihren Freund.

„Klar“, antwortete Pit, „gut, dass Charley so gut aufgepasst hat, wer weiß, was sonst passiert wäre.“

„Wir waren aber auch ein gutes Team“, meinte Julia.

Einen Moment war es still. Dann sagte Pit auf einmal ganz tief von innen heraus. „Danke, Julia.“

„Wofür?“, wollte Julia wissen.

Doch weil das so schwer zu beschreiben war, entschied sich Pit lieber dazu, Julia kräftig durchzukitzeln.

 

 

 

Anke Dittmann ©

Markos Sternenwunsch

Marko wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder gesund zu sein. Er ärgerte sich über seinen Sportunfall so kurz vor Weihnachten. Warum wollten seine Eltern auch unbedingt, dass er Handball spielen sollte. Nun war er im Spiel so stark mit dem großen Nils aus der gegnerischen Mannschaft zusammengerasselt, dass er sich den Arm gebrochen hatte, von der leichten Gehirnerschütterung ganz zu schweigen. Und was hat ihm das eingebracht? Einen Krankenhausaufenthalt!

Mit ihm auf dem Zimmer lagen Tom und Simon. Tom war ja noch ganz lustig, der hatte wenigstens ’nen Fernseher dabei und ließ ihn ab und zu mitgucken, aber Simon, der war noch viel kleiner und spielte ständig mit seinem Dinosaurier aus Gummi.

Davon hatte Marko sogar schon einmal geträumt, nicht von Simon, aber von dem Dinosaurier. Marko sah sich im Traum in einem großen Schwimmbad. Gerade war er ins Wasser gegangen und ein paar Runden geschwommen, da kamen Cheerleader am Beckenrand aufmarschiert und tanzten. Wenig später kam auf einmal dieser Riesendinosaurier aus der Damendusche, herausgeputzt wie zum Geburtstag. Die Cheerleader riefen: „Auf ein langes Leben!“ und dann sprang der Dino unter ihrem Applaus mit Anlauf ins Schwimmbecken, fast dem Marko auf den Kopf. Da war er aufgewacht – mit Kopfschmerzen natürlich. Simon und der Dino konnten ihm gestohlen bleiben.

Mama und Papa besuchten ihn jeden Tag, zusammen oder abwechselnd. Sie trösteten ihn damit, dass er ja bald wieder nach Hause könne, bis Weihnachten auf jeden Fall. Wäre ja auch noch schöner! Nur den Gips, den müsste er wohl noch länger tragen.

„Ich gehe nie wieder zum Handball.“ Das hatte Marko seinen Eltern schon klargemacht.

Aber seine Mutter hatte nur gesagt: „Was willst du denn dann machen, etwa zum Ballett gehen, als Primaballerina?“ Manchmal war Mama wirklich unmöglich.

„Vor mir aus, alles ist besser als Handball“, hatte er patzig geantwortet und hätte fast noch seine Zunge herausgestreckt.

Dabei wollte er eigentlich etwas ganz Anderes machen. Marko liebte Musik. Viel lieber als zum Sport zu gehen, wäre er Mitglied in einer Band. Das wäre doch was: Schlagzeug spielen oder E-Gitarre. So richtig laut, mal alles raus lassen, was so in ihm steckt. Aber sein Vater hatte kein Verständnis dafür, es sei denn, es ginge um Blasmusik. Aber Flügelhorn wollte Marko nun wirklich nicht spielen lernen.

Als er mit Tom darüber sprach, hatte der gesagt: „Sei froh, dass du keine Schwester hast wie ich. Mein Schwester Marina macht immer alles richtig, die ist super in der Schule, die tanzt Ballett, die spielt Klavier, die will auch immer alles vorspielen. Da kann ich mit meinem bisschen Sport im Turnverein nicht mithalten. Versuch ich auch gar nicht mehr und schau lieber Fernsehen.“ Tom war also keine wirkliche Hilfe.

Als er den dritten Tag im Krankenhaus war, kam unerwarteter Besuch. Niemand von den Kindern hatte an so etwas gedacht. Das Krankenhaus hatte einen kleinen eigenen Radiosender. Jetzt zu Weihnachten wurden alle Patienten gebeten, ihre Wünsche aufzuschreiben. Auch die Kinder. Es waren Jugendliche aus der benachbarten Kirchengemeinde, die die Aktion mit vorbereitet hatten. So kam es, dass Niko und Sönke zu den Jungs ins Krankenzimmer kamen. Man konnte ihnen ansehen, dass sie sich etwas unsicher fühlten. Sie stellten sich vor und verteilten ausgeschnittene Sterne, auf die die Kinder ihre Wünsche schreiben sollten, wie alle anderen Patienten auch.

Dem kleinen Simon mussten sie dabei etwas helfen.

„Was wünschst du dir?“ fragte ihn Niko.

„Noch einen Dinosaurier“, rief er aus.

„Ich glaube es nicht“, stöhnte Marko.

Tom wünschte sich, dass er Weihnachten nach Hause könne. Marko wusste, dass das noch nicht sicher war, denn Tom hatte einen komplizierten Trümmerbruch im Fuß.

„Und du?“, wurde schließlich er gefragt.

„Ich weiß nicht“, antwortete er langsam.

„Hast du keine Hobbys?“, wollte Sönke wissen. „Ich mache zum Beispiel Musik.“

„Echt?“ Marko richtete sich interessiert auf. „Was denn für Musik?“

„Flügelhorn“, antwortete Sönke stolz und Marko fiel wieder in sich zusammen. Gab es denn niemanden, der ihn verstand?

„Ich will nur meine Ruhe haben“, sagte er leise.

„Dann lassen wir dir den Stern hier“, sagte Niko, „vielleicht fällt dir später noch etwas ein. Die Wünsche werden übrigens morgen Mittag im Radiosender auf Kanal Zwei vorgelesen. Vielleicht geht ja einer in Erfüllung, wenn alle aneinander denken.“ Sönke und Niko verließen das Zimmer mit herzlichen Grüßen.

Marko ließ den Stern zunächst außer Acht. Was sollte er sich wünschen?

Als seine Eltern am Nachmittag kamen, erzählte er von dem Stern.

„Wünsche dir doch Frieden“, meinte seine Mutter, „den brauchen wir am meisten.“

„Das ist doch kein Wunsch für einen 10-jährigen Jungen“, entgegnete der Vater.

„Fällt dir was Besseres ein?“, sagte die Mutter.

„Ein Handball“, antwortete sein Vater. Marko hielt sich die Ohren zu.

Gegen Abend war der Stern immer noch nicht beschrieben. Simon war schon an der Seite seines Dinosauriers eingeschlafen, Tom hatte noch den Fernseher laufen und die Kopfhörer im Ohr. Marko starrte an die Decke.

„Wie schön wäre es, wenn mich wirklich jemand verstehen würde?“, dachte er. „Keiner versteht, was ich wirklich will“, murmelte er vor sich hin.

„Vielleicht wäre das ein Wunsch für deinen Stern“, hörte er auf einmal die Stimme der Abendschwester. Marko zuckte zusammen, er hatte sie gar nicht kommen hören, so in Gedanken war er. Sie hatte den Stern kurz zur Seite gelegt, als sie ihm etwas Wasser hinstellte.

„Du hast doch den Stern noch nicht beschrieben, wünsche dir doch, dass jemand erkennt, was du wirklich brauchst und willst. Ich finde, das ist ein schöner Wunsch. Außerdem ist es manchmal gar nicht so leicht zu erkennen, was ein anderer wirklich braucht.“

„Du meinst, ich soll das als Wunsch auf den Stern schreiben?“

„Warum denn nicht? Es ist doch dein Wunsch, oder?“

Marko nickte.

„Soll ich dir helfen wegen deiner Hand?“

„Nein, es geht schon“, antwortete Marko, nahm einen Stift aus der Nachttischschublade und beschriftete den Stern. ‚Ich wünsche mir, dass mich jemand wirklich versteht und mir zuhört, was ich möchte. Marko’, schrieb er auf den Stern und unterstrich das „ich“ vor „möchte“.

„Ich kann den Stern mitnehmen und beim Sender unten im Haus abgeben“, bot die Krankenschwester an, „dann geht der Wunsch morgen noch auf Sendung.“

Am nächsten Tag schalteten alle zur Mittagszeit das Radio laut. Sie waren gespannt darauf, ihren Wunsch zu hören und darauf, was sich andere gewünscht hatten. Der Krankenhauspastor leitete die Sendung ein, Niko und Sönke waren auch mit dabei. Als er gerade damit begann, die Wünsche vorzustellen, kam überraschend Markos Mutter ins Zimmer.

„Du? Jetzt schon?“, rief Marko.

„Nette Begrüßung“, antwortete seine Mutter irritiert.

„Psst“, meinte Tom, „ich will unbedingt meinen Wunsch hören.“

„Welchen Wunsch?“, fragte Markos Mama nach.

„Ach, hör jetzt einfach mal zu, Mama“, meinte Marko nur.

Seine Mutter schwieg.

Viele Wünsche der Erwachsenen fanden die Jungs in Markos Zimmer langweilig.

„Wer lange im Bett liegen muss und viele Schmerzen hat, wünscht sich doch nicht wirklich Weltfrieden, oder?“, kommentierte Tom.

Aber immerhin sollte fünfunddreißig Mal ‚Gesundheit’ auf den Sternen` gestanden haben. Viele hatten dazu Wünsche für Familienmitglieder. Eine hatte auch einen Wunsch für ihren Arzt, den Wunsch nämlich, dass er noch vielen anderen Menschen helfen könne. Marko fand, dass das ein schöner Wunsch war.

„Und jetzt kommen wir zu den Wünschen der Kinder“, ertönte die Stimme des Pastors durch den Lautsprecher. „Anna aus dem Zimmer Zwei der Kinderstation wünscht sich…“ und es folgten viele Sachwünsche all der Kinder im Haus Drei des Klinikums. Marko beobachtete, wie Simon sehnsüchtig auf seinen Dinosaurierwunsch wartete und jubelte, als er seinen Namen hörte.

„Wir haben aber auch andere Wünsche“. Jetzt war es die Stimme von Niko. „Ingalena zum Beispiel wünscht sich, dass ihre Oma mit der Familie Weihnachten feiern kann.“

Dann kam Sönkes Stimme: „Wiebke wünscht sich, dass sie sich mit ihrer Zwillingsschwester besser versteht.“

Wieder Niko: „Sandra hofft darauf, dass ihre Eltern wieder zusammenziehen, sie ist traurig, dass sie sich getrennt haben.“

„Und zwei Jungs aus Zimmer Sieben“, begann Sönke, „wünschen sich dies: Tom möchte unbedingt Weihnachten nach Hause und das ist noch nicht sicher, weil sein Fuß so schwer verletzt ist. Also drücken wir ihm die Daumen! Und ganz spät erreichte uns gestern noch der Wunsch von Marko. Er schreibt: …“

„Na, da bin ich ja gespannt“, sagte Markos Mama.

„…Ich wünsche mir, dass mich jemand wirklich versteht und mir zuhört, was ich möchte, und er hat das „ich“ vor dem „möchte“ dick unterstrichen.“

Marko bemerkte, dass seine Mama schluckte und ihn dann fragend und traurig ansah.

„So viele Wünsche und Hoffnungen“, sagte der Pastor. „Wir bitten darum, dass sie in rechter Weise in Erfüllung gehen und denken an all die Menschen, die diese Wünsche in sich tragen. Wir werden alle Wünsche auf den Sternen in unserer kleinen Klinikkirche aufhängen, als Wunschsternenhimmel. Vielen Dank an alle, die sich beteiligt haben und an die Jugendlichen, die die Aktion mit durchgeführt haben.“

Es folgte Musik.

Mamas Schweigen war unerträglich. Dann räusperte sie sich und sagte: „Ich will es versuchen, Marko. Ich versuche es eigentlich immer, aber vielleicht habe ich nicht richtig zugehört?“ Sie legte ihre Hände hinter die Ohrmuscheln und sagte: „Also, ich bin bereit, schieß los.“

Marko musste lachen, weil seine Mutter mit den Händen hinter den nun vor geklappten Ohren so aussah, als hätte sie Elefantenohren.

„Marko, ich meine es ernst“, sagte sie.

„Okay, Mama. Also: Ich möchte wirklich nicht Handball spielen und auch keinen Handball geschenkt bekommen.“

„Angekommen. Und weiter?“

„Ich möchte auch keine Primaballerina werden.“

„Gott sei Dank.“ Mama seufzte erleichtert.

„Aber ich möchte gern Schlagzeug spielen oder Gitarre. Ich liebe Musik, aber nicht die von Papa.“

„Aha.“ Mama wirkte nachdenklich. „Schlagzeug oder Gitarre“, wiederholte sie dann.

„E-Gitarre am besten“, bekräftigte Marko.

„Und weißt du, was ich möchte?“, fragte sie Marko dann.

„’Nen braven Jungen?“, antwortete er.

„Das ist zwar ganz schön, aber wichtiger ist mir doch ein glücklicher Junge“, sagte sie, „gut, dass du den Stern noch beschriftet hast.“

Jetzt war Marko auch froh darüber. Seine Mutter gab ihm ein Küsschen auf die Stirn.

Marko erholte sich gut und einige Tage später durfte er nach Hause. Er verabschiedete sich von Simon und dessen Dinosaurier und von Tom, der ihn überglücklich anstrahlte, weil er erfahren hatte, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen würde: Er konnte zum Weihnachtsfest für zwei Tage nach Hause.

Bevor Marko das Krankenhaus verließ, wollte er unbedingt noch einmal mit seinen Eltern in die Klinikkirche, um den Sternenhimmel zu sehen. Die kleine Kapelle war schummrig beleuchtet und links vom Altar stand schon die Weihnachtskrippe, aber noch ohne Jesuskind. Über der Krippe an der Wand fanden sich all die Sterne mit den Wünschen der Patienten.

„Das ist schön, Mama“, sagte er ganz leise, „hoffentlich gehen ganz viele Wünsche in Erfüllung.“

„Bestimmt“, meinte sie.

Marko schwieg während der ganzen Rückfahrt im Auto. Der Sternenhimmel ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Egal, was er zu Weihnachten bekommen würde, ein Wunsch war schon in Erfüllung gegangen: Seine Eltern hatten ihm zugehört und ihn besser verstanden. Das hatte er gespürt.

 

 

Anke Dittmann ©

Brüder

 

Pit fasste mich am Arm und riss mich zu sich herum. „Was machst du denn hier“, rief er so laut, dass sich mehrere, die an uns vorübergingen, umdrehten. Pit ist mein großer Bruder. Wir haben nicht viel gemeinsam. Und meistens findet er mich nur nervig und peinlich.

„Ich sammle Spenden für Afrika“, antwortete ich und hielt ihm die Dose vor die Nase. Einschüchtern lasse ich mich schon lange nicht mehr, auch wenn Pit fünf Jahre älter ist als ich.

„So ein Schwachsinn“, tönte er zurück, „das kommt doch eh nie an.“

„Ich glaube daran, denn eine Gruppe aus der Gemeinde fährt da selbst hin und wir haben auch in der Schule schon…“, bevor ich ausreden konnte, unterbrach mich mein Bruder.

„Kannst du nicht mal was Normales machen? Sport oder Musik. Wenn dich hier jemand sieht aus meiner Klasse…“

Hatt’ ich’s mir doch gedacht, die Sache war ihm wieder peinlich. Dabei wusste er doch, dass ich auch gern zum Handball gehe und bald mit Gitarre anfangen würde. Doch, dass ich mich in einer Gruppe für arme Menschen engagiere, dass konnte er nicht verstehen. Genauer gesagt bin ich in einer neuen „Eine-Welt-Gruppe“, wir haben sie in der Schule gegründet, nachdem wir über Ostafrika gesprochen haben.

Und manchmal gehen wir eben sammeln und informieren andere in der Einkaufzone über den Hunger in der Welt, über wachsende Dürre und über Unrecht. Mir ist das wichtig. Neben unserer Lehrerin, unserem Pastor und drei anderen aus der achten Klasse, sind wir noch vier aus der fünften Klasse, die mitmachen.

„Wenn mich jemand aus deiner Klasse sieht, werde ich ihn freundlich grüßen und ihm sagen, dass du uns voll Freude unterstützt hast“, entgegnete ich.

Bei Pit stieg nach diesen Worten Wut auf. Doch, als meine Lehrerin sich zu mir umdrehte, verdrückte er sich – Gott sei Dank!

Erst am Abend sahen wir uns wieder. Er war nun besserer Laune, denn er hatte günstig ein Trikot von seinem Lieblingsverein bekommen, ein echtes Schnäppchen. Natürlich hatte er es gleich angezogen. Es sah echt cool aus.

„Dafür solltest Du mal sammeln gehen“, meinte er.

„Wir haben fast 350-€ zusammen bekommen, dafür können Hilfsgüter und Medikamente gekauft werden oder Saatgut oder Zelte für Flüchtlinge.“

Pit holte Luft, aber meine Mutter griff wie immer ein, bevor es zwischen Pit und mir richtig krachen konnte. „Jedem das seine, Pit. Ich finde es gut, dass sich Mark in der Gruppe engagiert. Und dein Trikot ist auch toll, da hast du echt Glück gehabt.“ Das war das Zeichen für Pit, dass er jetzt den Mund halten soll.

Egal, was Pit meinte, ich blieb in der Gruppe aktiv. Und was dann geschah, hätte ich mir nie träumen lassen. Nach den Herbstferien kam Susan in die zehnte Klasse meines Bruders. Sie kam aus den USA und lebte für ein Jahr bei unserem Pastor. In den ersten Wochen hatte sie noch einen Deutschkurs, deshalb war sie später gekommen. Ich lernte sie kennen, als sie in unsere Gruppe kam. Ich mochte sie gleich und ihren amerikanischen Akzent fand ich lustig. Dass Susan sicher mit das hübscheste Mädchen an der Schule war, interessierte mich damals noch nicht so.

Beim Abendessen erzählte ich vom letzten Treffen.

„Also, bei uns in der Gruppe ist jetzt ein Mädchen, mit einem ganz komischen Akzent“, begann ich. „Sie kommt aus Tennessee, das ist ein Staat der USA.“

„Was du nicht sagst.“ Pit machte sich mal wieder über mich lustig.  „Ich dachte, das liegt am Südpol.“

„Du bist ja auch blöd“, gab ich zurück. Und schon hob Mama wieder beschwichtigend die Hand. Keinen Streit beim Essen.

„Der macht mich noch ganz krank mit seinem Gesabbel“, meinte Pit.

„Trink lieber noch ein Schluck, Pit, und halt den Mund“, griff da Papa ein. Dann fragte er mich: „Wie heißt denn das Mädchen?“

„Susan“, antwortete ich kurz, doch diese Antwort veränderte alles.

„Susan?!“, fragte Pit ungläubig nach. „Die ist doch bei uns in der Klasse. Und ich dachte, es sind noch mehr aus Tennessee gekommen und du meinst jemand anderen.“ – „Echt, die Susan ist bei dir in der Gruppe?“

„Sag mal, was ist denn mit dir los?“, fragte ich.

„Wann findet eure Gruppe immer statt?“, fragte er geistesabwesend zurück.

„Immer dienstags um 18 Uhr“, sagte ich. „Wir treffen uns im Gemeindehaus.“

„Und die Susan ist auch da?“, wollte Pit genau wissen.

„Yes, Sir!“, antwortete ich und konnte mir ein gewisses Grinsen nicht verkneifen.

So kam es, dass Pit mich am nächsten Dienstag begleitete. Er war wie verändert. Er bereitete den Raum mit vor, teilte etwas zu trinken aus und lauschte dem Bericht eines Jugendlichen, der ein Jahr in Kenia beim Roten Kreuz mitgeholfen hatte.  Dieser hatte Bilder mitgebracht. Er berichtete, wie schlecht es den Menschen dort geht, und dass viele kein Geld haben, um für ihre Gesundheit zu sorgen. Viele Menschen auf den Bildern waren erschreckend dünn, aber auch die Tiere wirkten abgemagert. Er erzählte weiter von der Not in den Dürregebieten und wie schwer es war, wenn sie Lebensmittel verteilt haben und nicht genug hatten und viele hungrig zurücklassen mussten.

Pit tat so interessiert, fragte nach, machte Vorschläge, als wollte er der nächste Jesus werden. Mir ging das jetzt auf die Nerven, da ich ja wusste, dass ihn nicht unsere Hilfe, sondern Susan interessierte.

„Beim Stadtfest am übernächsten Wochenende wollen wir wieder Spenden sammeln“, erzählte unser Pastor. „Seid ihr dabei?“

Ich sah, wie Pit schluckte.

„Ja, ich bin da“, sagte Susan noch etwas schüchtern. „Du auch, Pit?“

Jetzt musste mein Bruder Farbe bekennen.

„Ich weiß noch nicht genau, da ist auch ein Fußballspiel“, antwortete er vorsichtig.

„Ach, macht nichts“, sagte ich dann. „Das schaffen wir auch so.“ Pit schaute mich böse an.

„Vielleicht kann ich ja nachkommen“, meinte er dann.

Als er dann tatsächlich beim Stadtfest nach seinem Spiel auftauchte, dachte ich: „Das muss wahre Liebe sein.“ Ich bin zwar nur der kleine Bruder, aber blöd bin ich nicht. Mama hat allerdings gesagt, ich soll nicht so lästern, Hauptsache Pit sei dabei.

Pit schloss sich Susan an. Zusammen sammelten sie wie die Weltmeister. Dabei lachten sie, gingen auf andere zu, informierten und hielten immer wieder die Spendenbüchse hin.

Auf einmal kamen aber Sönke und Mike aus Pits Klasse und das Bild änderte sich. Sie tuschelten und lachten. Dabei zeigten sie mit dem Finger auf Susan und Pit. Pit blieb das nicht verborgen. Er wurde rot. Da lachten die noch mehr. Es tat mir leid. Pit wandte sich ab.

Im Getuschel der beiden Klassenkameraden klang das Wort: „Idiot“ mit. Da wurde ich richtig sauer. Pit war immerhin mein Bruder und eine Familie muss zusammenhalten.

Als ich dann sah, wie einer der beiden einen Stein aufhob und in sein Taschentuch legte, um ihn wie mit einer Steinschleuder auf Pit abzuschießen, ging es mit mir durch. Ich stürzte mich auf ihn und riss ihn um. Es begann sofort eine Schlägerei, da beide auf mich einschlugen und Pit mir augenblicklich zur Seite stand. Bis unser Pastor dazwischen war, hatte ich schon einen blauen Fleck am Auge und mit dem Knie war ich übel aufgeschlagen. Pit war im Staub gelandet und hatte eine Schürfwunde am Arm, die blutete. Unsere Gegner sahen auch nicht besser aus.

Der Pastor stellte uns zur Rede. Wir mussten uns alle entschuldigen. Die anderen ein bisschen mehr als wir, fand ich. Aber das Ganze hatte doch noch zwei gute Seiten. Die eine: Susan hat uns mit den „Erste Hilfe Sachen“ versorgt und begleitete uns nach Hause, wohin sie später noch öfter kam, weil Pit und sie Freunde wurden. Und die zweite gute Sache war: Pit und ich halten seitdem zusammen wie Pech und Schwefel, wie echte Brüder eben.

 

 

Anke Dittmann ©

Falsche Geschenke vom Nikolaus

 

Niklas war ein Bastler und Zauberer, Julia eine Leseratte. Dazu liebte Julia ihre Ruhe, abgetaucht in die Geschichte ihrer heiß geliebten Bücher konnte sie Störungen nicht leiden. Niklas dagegen war immer offen für ein Experiment, da konnte es auch mal laut zugehen, wie bei Knall letzte Woche, als er mit den neuen, gigantischen Luftballons und Feuer hantierte. Darum kannte ihn jeder in der Ruprechtstraße und jeder hätte schon gern einmal an Niklas mit der Rute von Knecht Ruprecht ein Exempel statuiert. Dieser Schlingel! Gemeingefährlich. Julia dagegen fiel nie unangenehm auf. Sie war nett und höflich, still und hilfsbereit, solange man sie in Ruhe lesen ließ.

Niklas und Julia besuchten dieselbe Schule. Niklas war schon in der Oberstufe, Julia in der 10. Klasse. Beide kannten sich, natürlich, denn sie wohnten beide in der Ruprechtstraße. Julia in dem kleinen Bungalow gleich vorn an, Niklas in dem alten Siedlungshaus weiter die Straße hinab. Hinten, in dem alten Stall, wo früher das Kleinvieh gehalten wurde, hatte er sich seine Werkstatt eingerichtet. Ein Labor, bestaunt von Mitschülern, wenn sich einmal jemand dahin, verirrte, gefürchtet von allen Nachbarn.

Julia teile ihre Leidenschaft für Bücher mit ihrer Mutter. Das Wohnzimmer in ihrem Haus glich einer Bibliothek, die es von Umfang her gut und gerne mit einer kleineren Leihbibliothek hätte aufnehmen können. Und auch Julias Zimmer war von oben bis unten voller Bücher. Julia und ihre Mutter lebten allein im Bungalow. Ihr Vater war früh verstorben und ihre Mutter war seit seinem Tod oft seltsam abwesend und unkonzentriert. Sie musste ihren Beruf aufgeben und in Frührente gehen. Jetzt malte sie und las. Julia genoss es, dass ihre Mutter immer für sie da war. Oft tauschten sie sich über die Bücher aus, die sie lasen. Aber beide lebten ganz für sich.

Niklas dagegen hatte noch zwei kleinere Geschwister, Jonas und Flo, vor denen er viele seiner Experimente verborgen halten musste: zu gefährlich. Einmal hatte er versehentlich seine neuen Fackeln im Flur stehen lassen. Schon hatte sich sein kleiner Bruder Jonas eine der Fackeln geschnappt und damit im Wohnzimmer die HSV-Fahne seines Vaters angezündet. Da wäre fast das Haus abgebrannt und Niklas hatte wieder alle Hände voll zu tun, vor den Eltern den Erhalt seine Werkstatt zu verteidigen.

Was Niklas und Julia aber verband, ohne dass die beiden es wussten, war die Erfahrung von Einsamkeit. Julia floh davor in ihre Bücher und lebte oft in Traumwelten, Niklas verschwand in seiner Werkstatt und entwickelte irgendwas und träumte dabei Zauberer oder Erfinder zu sein. Wer von den anderen in der Klasse wusste schon wie es war, wenn der Vater früh starb und die Verantwortung für die Mutter mit auf den eigenen Schultern ruhte? Wer von den computersüchtigen Mitschülern legte schon noch selbst Hand an und experimentierte in einem alten Stall, weil es mit den beiden kleinen Geschwistern im Haus einfach zu eng und anstrengend war? Beide fanden niemanden, wo sie sich verstanden fühlten. Da half nur, noch mehr lesen und noch mehr experimentieren, damit diese Einsamkeit nicht so auffiel.

Es war Winter geworden. Niklas feierte seinen Namenstag, wie jedes Jahr am 6. Dezember, dem Nikolaustag. Als er am Morgen aufwachte, freute er sich über den Schnee. Es hatte schon lange nicht mehr geschneit. Oft erinnerte er sich an einen Urlaub im Odenwald zurück. Sie waren einige Tage nach Gammelsbach gefahren. Ein kleiner eher langweiliger Ort, doch als sie da waren, fiel so viel Schnee, dass sie eingeschneit wurden. Damals wurden deshalb sogar die Weihnachtsferien verlängert, das war fast eine richtige Schneekatastrophe. Aufregend.

Nach dem Frühstück packte er sein Geschenk aus, das seine Eltern ihm zum Namenstag geschenkt hatten und dann natürlich noch das, was der Nikolaus ihm in den Schuh gelegt hatte. Eigentlich war er dafür ja zu alt, aber seine Eltern bestanden darauf, weil seine kleinen Geschwister ja auch noch ihre Schuhe rausstellten. Seine Eltern meinten es gut mit ihm, sie schenkten ihm zum Namenstag einen neuen Zaubertrick mit Würfeln. Den hatte er sich schon lange gewünscht. In dem Nikolauspaket aber befand sich ein Buch: „Tintenherz“. „Was soll ich denn damit?“, dachte Niklas bei sich. Ist das nicht ein Mädchenbuch? Und überhaupt ein Buch?! Niklas las nicht so gern.

„Ach, ein Buch“, meinte sein Vater in einem Tonfall, als wäre der Inhalt des Pakets für ihn eine Überraschung. „Sicher möchte der Nikolaus, dass du einmal mehr liest.“

„Dem Nikolaus ist das sicher egal, aber dir nicht, Papa!“, ging es Niklas durch den Kopf.

Trotzdem bedankte er sich artig, er wollte ja keinen Stress mit den Eltern.

Natürlich war auch am Ende der Ruprechtstraße im kleinen Bungalow Nikolaustag. Als Julia ihr Geschenk aus dem Stiefel auspackte, wunderte sie sich. Kein Buch? Eintrittskarten waren darin. Eintrittskarten für ein Fußballspiel?!

„Was hat sich der Nikolaus denn dabei gedacht?“, entfuhr es ihr und sie war froh, dass sie den Nikolaus vorschieben konnte, denn sie fragte sich ernsthaft, was ihre Mutter sich denn dabei gedacht hatte. „Der Nikolaus dachte sicher, dass du mal etwas unternehmen solltest und auch mal raus aus dem Haus“, flötete die Mutter, als hätte sie ihre pädagogisch wertvollen zehn Minuten. „Es sind zwei Karten für ein gutes Bundesligaspiel. Bayern München gegen den Hamburger Sportverein, also suche dir eine nette Freundin oder besser noch einen Freund und los geht’s.“

„Danke schön“, sagte Julia zögerlich und ganz leise und dachte; „Fußball, mein Gott, ich interessiere mich doch nicht für Fußball. Und verkuppeln will sie mich auch noch. Das ist bestimmt ein Tipp von ihrem neuen Therapeuten.“

Nach dem Frühstück ging Julia einen Moment in den Garten, um frische Luft zu schnappen, nach dem Schrecken vom Nikolaus, aber auch, um den Schnee zu bewundern und Fotos zu machen. Im Vorgarten stand ein kleiner Ginsterstrauch, der mit Schnee überzogen wunderschön aussah. Als sie das Foto machte, kam gerade Niklas vorbei, der auch dringend frische Luft brauchte.

„Hallo Julia“, grüßte er.

„Hallo Niklas.“

„Auch mal frische Luft schnappen?“, sagte er mehr so einfach vor sich hin.

„Wegen dem Schnee. Ich mache ein paar Fotos. Übrigens: Alles Gute zum Namenstag.“

„Danke“, sagte er kurz.

„Du bist nicht gut drauf, oder? Haben deine Eltern deinen Namenstag vergessen?“, fragte Julia nach.

„Nein, aber ich habe etwas ganz merkwürdiges geschenkt bekommen. Ein Buch.“

„Toll, ein Buch. Wunderbar. Welches denn?“

„Du interessierst dich für Bücher?“, fragte Niklas verwundert.

„Kann man so sagen“, untertrieb Julia, „also welches Buch hast du geschenkt bekommen?“

„Tintenherz.“

„Tintenherz! Toll! Ist echt spannend!“

„Ja? Du kennst das Buch?“

„Klar, aber ich habe es noch nicht. Ich hätte mich gefreut.“

„Und du, Julia, hat dir der Nikolaus auch was in den Schuh gesteckt?“, fragte Niklas.

„Ja, meine Mutter ist etwas altmodisch und besteht darauf, dass ich den Schuh immer noch rausstelle. Diesmal hat sie mir leider kein Buch in den Schuh gelegt, sondern Bundesligakarten für zwei Personen.“

„Cool, welches Spiel denn?“, Niklas wurde neugierig.

„Ich glaube Bayern gegen Hamburg oder so.“

„Ein Spitzenspiel! Warst du schon mal im Stadion? Ist echt ’ne tolle Atmosphäre da. Super Geschenk!“

„Ich weiß nicht. Ich hab auch gar keinen, mit dem ich da hingehen kann.“

Niklas grinste. „Lass uns doch ein Geschäft machen. Ich gebe dir Tintenherz und du nimmst mich dafür mit ins Stadion.“

„Echt, du würdest mir das Buch geben?“

„Aber nur, wenn ich mit zum Spiel kann.“

„Von mir aus“, sagte Julia, „es ist gleich das erste Spiel nach der Winterpause.“

„Abgemacht! Willst du das Buch gleich haben?“

„Wenn’s dir recht ist.“

„Dann komm doch eben mit zu mir“, lud Niklas Julia ein, „ich habe das Buch schon in meiner Werkstatt.“

„Der berühmt berüchtigten, wo es immer kracht und zischt?“, Julia lachte, „da bin ich ja mal gespannt.“

So betrat Julia das erste Mal die Werkstatt von Niklas und staunte. Sie fragte aber auch nach und probierte das ein oder andere aus, den neuen Zaubertrick zum Beispiel. Fantastisch. Und sie war gar nicht so ungeschickt dabei.

Als Niklas dann Julia mit dem Buch nach Hause brachte, staunte er über die Bücher bei ihr im Wohnzimmer, über die Bücher im Flur und über die Bücher in Julias Zimmer.

Das neue Jahr brach an und die Mutter von Julia freute sich, als Julia tatsächlich gern ins Stadion fuhr, mit diesem Zauberer, der ein paar Häuser weiter wohnte und neuerdings einen Lesesessel in seiner Werkstatt haben sollte. Einen sehr bequemen Lesesessel – wie ihre Tochter bestätigte.

Und die Eltern von Niklas wunderten sich, dass dieser dann plötzlich doch das ein oder andere Buch im Zimmer liegen hatte, wenn auch nicht Tintenherz und wenn er auch nicht alle wirklich las.

Der Nikolaus irrt sich eben doch nicht, wenn er etwas verschenkt.

 

Anke Dittmann ©

Nicos Kostümidee

 

„Hat Maline dich auch zu ihrem Geburtstag eingeladen?“, fragte Nico seinen Freund Max in der Pause.

„Ja“, antwortete der, „weißt du, dass es eine Kostümfete werden soll?“

„O weh! Als was verkleidest du dich?“, wollte Nico wissen.

„Ich habe noch keine Idee.“

„Geh doch als Banane“, witzelte Marie, die das Gespräch der beiden mitgehört hatte. „Bist ja eh so lang und dünn.“

„Halt die Klappe“, gab Max schroff zurück und entfernte sich mit Nico ein paar Schritte.

„Dass Mädchen einem immer so auf die Nerven gehen müssen“, stöhnte er.

„Marie kann eben einfach nicht ihren Mund halten“, meinte Nico.

„Von Paul weiß ich, dass er als Fußballspieler kommen will und Emma wird sich als Tänzerin verkleiden“, sagte Max.

„Nicht besonders einfallsreich, finde ich“, meinte Nico.

„Uns wird schon noch was Besseres einfallen“, meinte Max, „hauptsache meine Mama will mich nicht in das alte Hasenkostüm reinzwängen.“

Nico lachte und Max schaute ihn böse an.

„Entschuldigung“, sagte Nico, „aber das ist wirklich eine zu komische Vorstellung, wie du mit langen Ohren und Zähnen durch das Wohnzimmer hoppelst.“

„Du bist auch nicht viel besser als Marie“, gab Max sauer zurück.

Es klingelte zur Stunde und Nico und Max mussten sich jetzt erst einmal auf den Matheunterricht konzentrieren, denn in der nächsten Stunde sollte eine Arbeit geschrieben werden.

Auf dem Weg nach Hause dachte Nico weiter darüber nach, was er zu diesem Kostüm-Geburtstag anziehen könnte. Aber das war gar nicht so leicht. Als Cowboy oder Indianer war er schon im Kindergarten verkleidet gewesen und Pirat war auch nicht originell.

Zuhause beim Mittag fragte er seine Mutter: „Wie soll ich mich verkleiden zu Malines Geburtstag?“ Und im gleich Moment bereute er es, denn sein großer Bruder Eric antwortete: „Geh doch als gegrilltes Hähnchen mit deiner Gänsehaut!“

Nicos Mutter schaute Eric streng an, doch der antwortete: „Ist doch wahr, dies Verkleiden ist doch Kinderkram.“

„Ich finde die Idee ganz gut“, antwortete seine Mutter. „Nico, geh doch als Gespenst.“

„Langweilig“, meinte Nico.

„Dann als Indianer.“ – „War ich schon im Kindergarten.“ – „Dann geh als irgendein Tier.“

„Oh ja, Nico könnte ja als Brillenschlange gehen, so lange wie der immer über den Büchern hockt“, warf Eric ein und wurde daraufhin von seiner Mutter aus der Küche gewiesen.

„Wenn dir jetzt nichts einfällt, denke einfach eine Weile nicht darüber nach. Denn die besten Gedanken kommen oft von allein“, tröstete ihn seine Mutter, stand auf und deckte den Tisch ab. Nico half noch ein wenig und ging dann auf sein Zimmer.

 

Die Sache mit dem Kostüm ging ihm nicht aus dem Kopf. Er konnte sich gar nicht auf die Hausaufgaben konzentrieren. Er ärgerte sich, als er sich deshalb so oft im Deutschheft verschrieb. So hörte er einfach auf und warf sich auf sein Bett. Er schaute sich im Zimmer um.

Er brauchte einfach eine tolle Idee. Sein Blick wanderte über sein Bücherregal. Da stand sein Angelbuch mit dem Xander vorne drauf. Aber als Fisch wollte er sich nicht verkleiden. Dann stand dort das alte Bilderbuch von dem kleinen Spatz Pieps, aber dafür fühlte sich Nico zu alt. Dann kamen die Bücher über Afrika. Eric hatte sie ihm geschenkt. Der hatte ja auch zum Schrecken seiner Mutter einen Skorpion im Terrarium.

Einen Moment dachte Nico darüber nach, wie ein Skorpion-Kostüm aussehen könnte.

„Nein, das würde nicht gehen, viel zu schwer“, dachte er dann.

Ihm wurde langweilig. Er schnappte sich seine leere Brotdose aus dem Ranzen, brachte sie zu seiner Mutter in die Küche und schnappte sich noch einen Apfel. Dann rief er nach Capucina. Capucina war ihr Hund, genau gesagt eine alte Mischlingshündin. Sie war kaffeebraun und wuschelig. Mama hatte sie aus dem Tierheim geholt. Die Hündin war so alt, dass sie niemand sonst mehr haben wollte. Sie hatten in der Familie schon oft alte Hunde gepflegt.

Nico lief die übliche Runde mit Capucina durchs Dorf. Auf dem Weg traf er Max.

Hallo“, rief der schon von Weitem. Sie gingen ein Stück gemeinsam.

„Na, hast du schon eine Idee für das Kostüm?“, fragte er Nico.

„Ne“, gab Nico etwas griesgrämig zurück.

„Ich komme als Feuerwehrmann“, sagte Max dann. „Vielleicht gibt es ja draußen noch ein Lagerfeuer, dann ist so ein Feuerwehrmann gut zu gebrauchen. Außerdem habe ich ja alle Sachen dafür.“ Max war bei der Jugendfeuerwehr.

„Der hat es gut“, dachte Nico.

Max war auf dem Weg zur Apotheke und verließ Nico wieder.

Jetzt kam Maline auf ihn zu. Auch das noch.

„Na, wie geht es dir, Nico?“, fragte sie.

„Schon okay“, antwortete er.

„Ich bin mal gespannt auf dein Kostüm zu meiner Feier“, sagte sie dann.

„Ich auch“, dachte Nico, sagte es aber nicht laut.

„Hast du schon eine Idee?“, fragte sie.

Nico, dem das Thema nun schon auf die Nerven ging, rief lauter als gewollt: „Nein, noch nicht.“

Maline erschrak. „Du lieber Gott! Ich hab dich doch nur gefragt. Was ist denn mit dir los?“

Nico sagte nichts.

„Ich komme als Modedesignerin Bentch.“ Maline sprach weiter, ob er zuhören wollte oder nicht. „Mama und ich haben dafür extra ein tolles Kleid entworfen.“

„Schön für dich“, meinte Nico.

„Dir wird bestimmt auch noch was einfallen, Nico“, sagte Maline dann, um ihn aufzumuntern, „Hauptsache, du kommst. Es wird bestimmt lustig.“

Maline ging wieder ihrer Wege und Nico schlurfte mit der alten, langsamen Capucina über den Dorfplatz Richtung Kirche.

„Schade, dass es bei uns keinen McDonalds gibt“, dachte Nico, „ich würde jetzt gern eine Portion Chicken McNuggets verdrücken.“ Aber bis zum nächsten McDonalds war es weit, zu weit für ihn und vor allem für Capucina.

Als sie bei der Kirche vorbei gingen läutete auf einmal eine der Glocken. Nico wunderte sich.

Es klang traurig, wie bei einer Beerdigung oder wie am Karfreitag. Und als er zum Kirchturm hinaufschaute, kam ihm plötzlich die Idee. Jetzt wusste er, wie er sich verkleiden würde. Nicht als Drache oder Krokodil, nein, viel besser. Solch ein Kostüm hatte es noch nie gegeben! Nicos Gesicht hellte sich auf und er kraulte Capucina hinter dem Ohr. Sie schaute ihn dankbar an.

„Solch ein Spaziergang ist eine gute Sache“, dachte er. „Danke, Cina!“ Er beschleunigte seinen Schritt und konnte es kaum erwarten nach Hause zu kommen.

„Hallo Mama“ schrie er durch das ganze Haus, als er zurück war. „ich habe eine Idee. Die Idee!“

Seine Mutter kam die Treppe herunter in die Küche, wo Nico schon gespannt am Tisch saß. Stift und Papier hatte er sich schon gegriffen.

„Na, jetzt bin ich aber gespannt“, sagte seine Mutter.

Nico strahlte sie an. „Ich gehe zum Kostümgeburtstag als der liebe Gott“, verkündete er dann feierlich.

Seine Mutter lehnte sich ein Stück zurück und runzelte die Stirn. Aber sie kannte ihren Sohn. Wenn Nico sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde er nicht lockerlassen.

„Du sollst dir aber kein Bild von Gott machen, heißt es in der Bibel“, sagte sie, „Gott ist überall, wie soll das Kostüm denn aussehen?“

„Ich habe schon eine Idee“, sagte Nico. „Du nähst mir einen Umhang aus einem alten Bettlaken und ich bemale es mit allem, was mir zu Gott einfällt.“

 

So kam es. Als Nicos Mutter das Kostüm genäht hatte, legte Nico es sorgsam auf den großen Esstisch. Dann legte er alte Zeitungen hinein und begann zu malen. Erst die eine und dann die andere Seite. Extra Stoffmalstifte hatten sie dafür gekauft.

Seine Mutter staunte. Nico malte die Erde mit Tieren im Wasser und auf dem Land. Er malte Menschen mit verschiedenen Hautfarben und leckere Sachen zu essen. Dann malte er Jesus, seine Geburt in Bethlehem und wie er die Kinder segnete und dann seine Kreuzigung. Er malte ein großes Herz und ein großes Ohr und einen Mund mit einer Sprechblase. In der Sprechblase standen die 10 Gebote.

Seine Mutter setzte sich zu ihm und sie überlegten gemeinsam weiter. Im Alten Testament sei Gott auch als Wind beschrieben oder als Feuersäule und als Licht, meinte die Mutter. „Außerdem hält er die schützende Hand über uns“, ergänzte Nico und malte eine Hand. „Gott ist auch da, wo Menschen sich verstehen“, überlegte seine Mutter weiter. „Dann male ich zwei, die sich umarmen“, schlug Nico vor.

Es dauerte sehr lange, bis Nico das Kostüm fertig gemalt hatte. Aber es wurde wunderschön, lebenslustig und bunt.

 

Endlich kam Malines Geburtstag. Nico hatte es geschafft, von seinem Kostüm noch nichts zu verraten.

Er zog es schon Zuhause über. Sein Gesicht malte er gelb an und seine Haare sprühten sie goldgelb ein. Das sollte die Sonne sein.

Seine Mutter machte natürlich noch ein Foto von Nico. Solch ein Kostüm hatte es noch nie gegeben.

„Ich bin mir sicher, es würde auch Gott gefallen“, sagte sie Nico noch, als er aufbrach.

 

Am Abend kam Nico strahlend nach Hause. Es war eine wunderschöne Geburtstagsfeier gewesen. Alle hatten Nicos Kostüm bestaunt. Viele Fotos wurden gemacht: „Der liebe Gott“ mit dem „Feuerwehrmann“, „der liebe Gott“ mit der Modedesignerin Bentch“, „der liebe Gott“ mit dem „Fußballspieler“ und der „Tänzerin“.

Nico zog sein Kostüm ganz vorsichtig aus. Seine Mutter hängte es auf einen Bügel. Es würde in seinem Schrank einen besonderen Platz erhalten, da war sich Nico sicher.

 

 

 

Anke Dittmann 2011©

Viel besser als gedacht

 

Die diesjährigen Osterferien drohten zu einer Katastrophe zu werden. Die Zwillingsschwestern Kristin und Katharina sollten die Ferien bei ihrer Großmutter verbringen. Ihre Mutter musste ins Krankenhaus und der Vater konnte keinen Urlaub nehmen.

„Wir haben aber gar keine Lust auf Oma“, sagte Katharina zu ihrer Mutter. „Wir sind doch schon groß genug, um allein zu bleiben und morgens und abends ist Papa ja da.“

„Ich habe aber mehr Ruhe, wenn ihr bei meiner Mutter gut versorgt seid. Außerdem freut sie sich auf euch“, entgegnete die Mutter.

Katharina schwieg. Sie wusste, dass ihre Mutter Angst hatte vor dem Krankenhaus und sie wollte ihr nicht noch mehr Sorgen machen.

Trotzdem waren sie mit ihren zehn Jahren doch alt genug, auch allein zu bleiben. Und Großmutter hatte so ihre Eigenarten.

Kristin dachte genauso. „Zwei Wochen ohne Computer“, stöhnte sie abends im Bett am Tag vor der Abfahrt. „Bestimmt ist der alte Fernseher auch wieder kaputt.“

„Schlimmer sind noch Omas Ticks“, meinte Katharina. „Weißt du noch wie wir mit ihr beim Fußballspiel gewesen sind? SV Doofdorf gegen TSV Blödverein­– so haben sie zumindest gespielt– und Oma hat mitgeschrien, als wäre sie 18 Jahre alt. Total peinlich.“

„Und dann will sie uns immer überreden, Sport zu treiben. Für Mädchen wäre es gut, sie könnten Karate oder Jiu-Jitsu, um sich besser verteidigen zu können. Wenn ich daran denke, dass sie Mama früher zum Karatetraining geschickt hat, kann ich mir echt kaum vorstellen.“

„Da hatte Papa es besser, der sollte als Kind Handball spielen und tut es heute noch“. Katharina gähnte. „Komm, lass uns schlafen, ich bin total müde. Morgen geht’s dann los. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, erwiderte Kristin.

 

Die Eltern fuhren die beiden Schwestern am nächsten Tag mit dem Auto in das kleine Dorf Tönnsdorfs, wo ihre Oma wohnte. Es liegt etwa 50 Kilometer entfernt von Hamburg, wo sie zuhause waren. Kein Dorf, sondern ein Kaff sei dies Tönnsdorf, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Das war wenig aufmunternd.

Der Abschied von den Eltern war kurz, die Mutter hatte schon ganz ihre bevorstehende kleine Operation vor Augen.

„Mach dir keine Sorgen“, flötete Oma ihr lächelnd zu. „Wir werden uns wunderbar amüsieren. Ich habe mich schon sehr auf die Kinder gefreut. Und mach dir auch nicht so viel Gedanken wegen der Operation, du weißt, ich bin auch operiert worden, das ist nicht so schlimm.“ Oma drückte ihre Tochter fest an sich.

Danach kam für die Zwillinge der Abschied von Papa und von Mama mit guten Wünschen und ein paar Tränen und dann waren sie mit Oma allein.

Oma zeigte ihnen zunächst ihr Zimmer und versprach ihnen dann ein großes Eis in ihrer Wohnküche.

Katharina und Kristin räumten ihre Sachen in den Schrank und in das Badezimmer. Sonst machte das immer ihre Mama, aber Oma legte viel Wert auf Selbständigkeit. „Ihr seid doch schon groß“, pflegte sie zu sagen.

Als sie in der Küche beim Eis essen saßen, wollte Oma mit ihnen Pläne schmieden.

„Sonntag ist Ostern, was wollten wir denn noch so alles machen bis dahin und am Fest selbst?“, wollte sie wissen.

Die beiden zogen nur die Schultern nach oben. „Keine Ahnung!“, sagten sie dann.

Oma seufzte. „Habt ihr schon zu Ostern gebastelt?“

„Ja, in der Schule, Osterkörbchen. Außerdem haben wir Papierostereier mit Stoff beklebt“, antwortete Kristin.

„Wir haben auch Osterhasen bemalt, Ostertexte geschrieben, und wir haben im Religionsunterricht von Jesu Kreuzigung und von seiner Auferstehung gesprochen“, ergänzte Katharina.

„Wir könnten ja für eure Mutter eine Karte mit Osterblumen basteln und diese mit einem aufmunternden Text direkt ins Krankenhaus schicken, da würde sie sich sicher freuen“, schlug die Großmutter vor.

„Klingt okay“, sagte Kristin.

„Dann fahren wir morgen ins Hallenbad nach Bad Schwartau und können auf dem Rückweg ins Bastelgeschäft gehen und die Sachen dazu besorgen.“

Schwimmen gehen wäre schön“, meinte Katharina und dachte: „Vielleicht werden die Tage ja doch nicht so schlimm.“

„Ich habe euch noch gar nicht gesagt, dass wir drei über die Ferien noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben.“ Omas Stimme klang geheimnisvoll und die Schwestern befürchteten das Schlimmste.

Die letzte „wichtige“ Aufgabe, die sie mit ihrer Großmutter bei einem ihrer Besuche erledigt hatten, war der Bau einer riesigen Rakete aus Pappmaché für ein Kinderfest. Das war viel Arbeit gewesen. Sie musste lange trocknen, wurde bemalt und dekoriert. Sie sah ganz toll aus und Katharina und Kristin waren stolz darauf. Doch am Ende des Festes wurde die schöne Rakete kaputt gemacht, weil Großmutti lauter Süßigkeiten für die Kinder hineingesteckt hatte. Die Rakete hing erst kopfüber an einem Baum. Dann wurde, verbunden mit einem Spiel, das Befestigungsseil gekappt. Die Rakete fiel mit einem kleinen Feuerwerk zu Boden und die Kinder stürzten sich auf die Süßigkeiten.

Katharina und Kristin hatten geweint, weil die Rakete kaputt war.

Da die Kinder schwiegen, riet die Oma: „Oh, ihr beiden, ich sehe es an euren Gesichtern, ihr denkt jetzt an die Papierrakete. Seid ihr da immer noch böse? Wir haben doch noch die Fotos davon und es kam auf den Spaß an.“

Die Zwillinge zogen den Mund zusammen. Da dachten sie ganz anders als ihre Oma.

„Keine Sorge, wir werden nichts bauen. Aber wir haben eine große Verantwortung!“ Großmutter stand auf und wies die Kinder mit einer Handbewegung an, ihr zu folgen.

Sie verließen das kleine Häuschen und gingen zu dem Nachbarhaus.

„Ich habe neue Nachbarn“, erklärte Großmutter. „Die möchten in Urlaub fahren.“

„Ja und?!“, fragte Kristin.

„Sie haben Tiere und suchen jemanden, der ihre Tiere versorgt“, erklärte die Großmutter.

„Was für Tiere?“, wollte Katharina wissen.

Löwen, Nashörner, Elefanten, Dinosaurier…“, begann die Großmutter und bei den Zwillingsschwestern weiteten sich die Augen.

„… sind es natürlich nicht“, setzte ihre Oma fort.

„Ich dachte schon, wie soll das werden?!“ Katharina atmete auf.

„Schlangen und große Spinnen…“, begann Oma von neuem. „… wären ja spannend, sind aber nicht so kuschlig.“

„Spannend?“ schrie Kristin auf. „Voll eklig sind die.“

Noch bevor die Großmutter sagen konnte, um welche Tiere es sich handelte, öffnete sich die Tür und eine junge Frau begrüßte sie freundlich.

„Hallo, Frau Hauser! Und ihr müsst Kristin und Katharina sein, habe schon viel von euch gehört. Ich bin Britta, die neue Nachbarin.“

„Guten Tag“, antworteten beide Schwestern höflich im Chor.

„Finde ich ja toll, dass ihr euch um Taps und Flummi kümmern wollt“, sagte Britta. „Sie sind noch jung und ziemlich wild.“

Und in diesem Moment kamen zwei kleinere goldbraune Hunde aus der Wohnung geschossen und sprangen an Kristin und Katharina hoch.

„Die sind ja süß“, rief Kristin.

„Ich wollte schon immer einen Hund haben“, entfuhr es Katharina. „Aber bei uns in der Wohnung in Hamburg ist das nicht möglich.“

„Bis Ostern sind wir ein paar Tage weg, wenn ihr solange auf die Hunde aufpassen würdet und mit ihnen spazieren geht und sie versorgt, wäre das toll. Eure Großmutter hat einen Schlüssel für unser Haus.“

„Kein Problem“, antworteten beide vergnügt.

„Zum Osterfeuer sind wir dann wieder da und dann könnt ihr ja nächste Woche euch zusammen mit Jesse und Jasper um Taps und Flummi kümmern“, erklärte Britta noch.

„Jasper und Jesse?“, fragte Kristin nach. „Wer ist das?“

„Wir sind’s!“, tönte es da aus dem Haus und zwei Jungen kamen die Treppe heruntergerannt. Sie waren – wie Kristin und Katharina auch – nicht voneinander zu unterscheiden.

„Das sind meine Zwillinge“, stellte Britta vor. Sie sind elf Jahre alt. „Geht mal zusammen los mit den Hunden und die beiden erklären euch gleich alles, was ihr bedenken müsst.“

Jasper und Jesse holten die Hundeleinen und dann machten sich die vier auf den Weg.

„Also, ihr müsst besonders aufpassen bei Katzen…“, begann Jasper zu erklären, als die vier die Dorfstraße hinab zogen.

Britta und Großmutter schauten ihnen lächelnd nach. „Das werden bestimmt schöne Ferien für die Kinder“, meinte die Großmutter, ohne zu wissen, dass Kristin und Katharina erst jetzt genauso dachten.

 

 

Anke Dittmann©

 

Jaspers Entscheidung

 

„Was erzählst du wieder für verrückte Geschichten“, sagte Frau Mohn zu ihrem Sohn Jasper, „träumst den ganzen Tag.“

So ganz Unrecht hatte Jaspers Mutter nicht. Jasper war ein Junge voller Geschichten: Wenn andere draußen Fußball spielten, ging er in seiner Fantasie auf Abenteuersuche. Immer dabei war sein Freund Sam, sein treuer Hund, ein kluger Riesenschnauzer, der ihm stets zur Seite stand. „Auf Sam kann ich mich besser verlassen als auf manchen Menschen“, hatte Jasper schon oft gedacht, Sam gestreichelt und ihn mit Leckerlies verwöhnt.

Draußen im Garten auf dem Baum besaß Jasper ein Baumhaus. Wenn er oben im Baumhaus war, bewachte Sam die Stiege nach oben. Das Baumhaus hatte Jaspers Vater ihm noch gebaut, bevor er ausgezogen war. Seitdem war vieles anders geworden. Es gab weniger Streit im Haus, aber es war auch zu still geworden für Jaspers Geschmack, denn mit Papa zusammen hatte er viel unternommen, gebaut und gebastelt. An jedem zweiten Wochenende, wenn er zu Papa fuhr, war einfach zu wenig Zeit dafür.

Eines Tages hatte sein Vater eine Überraschung für ihn. „Weißt du was, Jasper“, begann er feierlich, „wir beide werden eine ganz tolle Reise machen.“

„Wohin?“ fragte Jasper sofort nach.

„Rate mal“, entgegnete sein Vater.

„Ins Deutsche Museum nach München“, riet Jasper, da wollte er schon immer mal hin.

„Weiter weg“, war der Tipp seines Vaters.

„Wir werden wandern in den Bergen, etwa in der Schweiz?“, meinte Jasper dann.

„Noch weiter weg, wir müssen fliegen“, war der nächste Tipp seines Vaters.

„Fliegen?!“, staunte Jasper. Er hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen. „Fahren wir etwa nach Amerika?“

„Falsche Richtung“, antwortete sein Vater, „soll ich es verraten?“

Jasper nickte.

„Wir werden nach Ägypten fliegen“, sagte er betont langsam und bedeutungsvoll.

„Wahnsinn!“, rief Jasper aus, „fahren wir auch zu den Pyramiden?“

Sein Vater nickte.

„Ich werde einen echten Ägypter sehen.“ Jasper schrie fast, weil er so aufgeregt war.

Und im gleichen Atemzug sagte er: „Das erlaubt Mama nie.“

„Hat sie schon“, kam prompt die Antwort seines Vaters.

„Ich glaub es nicht.“ Jasper fiel seinem Vater um den Hals.

„Ist ja gut, mein Kind“, sagte er ganz ruhig, „wenn du mich jetzt erwürgst, können wir allerdings nicht mehr zusammen aufbrechen.“

Seitdem er von der Reise wusste, erzählte Jasper zu Hause die abenteuerlichsten Geschichten. „Stell dir vor, Mama,“ begann er, „wir werden den Nil sehen, den Fluss, in dem Mose im Körbchen ausgesetzt wurde.“ Jasper war katholisch und kannte die Mose-Geschichten noch aus seinem Kommunionsunterricht. „Denk mal an die ganzen alten biblischen Geschichten von den Sklaven und dem Auszug aus Ägypten. Da würde ich gern eine Zeitreise machen und die Plagen miterleben. Oder denk an den Bau der Pyramiden, an all die Schätze, die mit in die Grabkammern gelegt wurden. Vielleicht verirren wir uns während einer Führung in der Pyramide und entdecken eine Grabkammer, die noch niemand gefunden hat. Schade, dass ich Sam nicht mitnehmen darf, der hätte bestimmt noch etwas entdeckt.“

„Beruhige dich, Junge“, hatte Mama nur gesagt, „vielleicht hätte ich doch nicht zustimmen sollen.“

„Doch, doch!“, sagte Jasper sofort und behielt seine Abenteuerideen lieber für sich.

 

Noch waren es einige Wochen hin bis zur Reise. Sie wollten über Himmelfahrt und Pfingsten fliegen, da hatte Jasper bewegliche Ferientage und 10 Tage am Stück frei. Das war noch so lange hin und Jasper schlief oft schlecht vor Aufregung.

Eines Abends, als er wieder aufgewacht war und noch einmal aufstand, hörte er zufällig ein Telefonat mit, das seine Mutter mit seinem Vater führte.

„Du hast es ihm noch nicht gesagt, Wolfgang, stimmt`s?“ Ihre Stimme klang ernst. „Wenn du es Jasper nicht bald sagst, dann tue ich es. Er hat ein Recht darauf. Er ist fast 12 Jahre alt.“ – „Rede nicht so um den heißen Brei herum.“ – „Nein, ich rege mich nicht künstlich auf.“ – „Wenn du es Jasper am nächsten Wochenende nicht sagst, dann sage ich es ihm. Das ist mein letztes Wort.“

Jasper ging rasch zurück in sein Zimmer. Was war da los? Was sollte sein Vater ihm sagen? War die Reise abgesagt? An Schlaf war nicht mehr zu denken. Aber seine Mutter fragen wollte er auch nicht, dann würde sie vielleicht denken, er habe sie absichtlich belauscht. Er musste einfach abwarten bis zum Wochenende.

 

Endlich kam das ersehnte Wochenende. Jasper war voller Sorge. Sein Vater schaute verlegen, als er ihn abholte.

Kaum waren sie in seiner Wohnung, kochte sein Vater Kakao und holte Schokoladenkekse hervor. Da wusste Jasper, dass es sehr ernst war.

„Na, ist die Reise abgesagt?“ entfuhr es ihm.

„Nein, wie kommst du denn darauf?“, fragte sein Vater erstaunt.

„Der Kakao, die Schokolade…, ich bin doch nicht blöd, da stimmt was nicht.“ Jasper klang verzweifelt.

„Also, wir fahren auf jeden Fall zusammen nach Ägypten“, beruhigte ihn sein Vater.

„Was ist denn dann los?“, Jasper gab nicht nach.

„Ich werde dir in Ägypten etwas Besonderes zeigen“, sagte sein Vater, „wir werden in Kairo wohnen. Ich habe dort eine Wohnung gemietet. In Kairo gibt es eine deutsche Schule…“

„Ich muss da doch nicht zur Schule, ich habe doch Ferien“, unterbrach ihn Jasper.

„Nein, du sollst da nicht zur Schule, aber ich.“

Jaspers Vater war Lehrer für Deutsch, Kunst und evangelische Religion.

„Du wirst an der Schule in Kairo arbeiten?“ Jasper schüttelte den Kopf, „ab wann?“, wollte er genau wissen.

„Nach den Sommerferien geht es los. Es ist eine tolle Chance für mich. Ich wollte schon immer mal ins Ausland.“

„Wie lange willst du da arbeiten?“, fragte Jasper nach.

„Sechs Jahre.“

„Sechs Jahre?!“, schrie Jasper auf. „Dann bin ich groß, wenn du wiederkommst. Dann erkenne ich dich gar nicht mehr und du mich auch nicht. Warum gehst du so weit von uns weg? Warum hast du es nicht gleich gesagt? Warum hast du mich nicht gefragt?“ Jaspers Gedanken überschlugen sich und in seiner Wut schlug er die Kakaotasse um.

„Jasper, beruhige dich doch“, sagte sein Vater, ging in die Küche und holte ein Wischtuch. „Ich werde jedes Jahr nach Deutschland kommen und dich besuchen und du kannst mich besuchen. Vielleicht kannst du später auch ein Jahr einmal in Kairo bei mir wohnen und dort zur Schule gehen.“

Jasper sprang auf. „Einmal im Jahr…, vielleicht später mal…. Das ist zu wenig! Ich will nach Hause zu Mama.“

„Lass uns doch darüber reden.“ Jaspers Vater versuchte ruhig zu bleiben, „überlege doch, was wir dort alles zusammen erleben können. Denk an die Abenteuer, die auf dich warten, die Pyramiden, die Krokodile…“

Pinguine sind mir lieber!“, warf Jasper trotzig ein und blieb stehen, „ich will nach Hause. Und ich fahre dann lieber mit Mama an die Ostsee.“

„Versuch doch, mich zu verstehen“, bat sein Vater.

„Ich ruf Mama an, sie kann mich sofort abholen.“ Jasper blieb hart.

Sein Vater gab auf.

 

Wenig später kam Jaspers Mutter, um ihn abzuholen. Als Jasper schon im Auto saß, sprachen seine Eltern noch in der Tür miteinander. Sie würden sich wieder streiten, das spürte Jasper genau.

Kurz danach kam seine Mutter mit hochrotem Kopf zurück, setzte sich ins Auto und knallte die Tür zu. Schweigend fuhren sie nach Hause.

Als Jasper wieder in seinem Zimmer war, nahm er das Bild von seinem Vater, welches immer auf seinem Nachttisch stand, weg und legte es ganz nach hinten in die Schreibtischschublade. Sein Vater hatte ihn getäuscht, wie damals, als er ausgezogen war. Da hatte er ihm erst ein Meerschweinchen oder ein Kätzchen versprochen und dann gesagt, was los war.

Jasper ging aus dem Zimmer, rief Sam und ging mit ihm in den Garten. Lustlos sammelte er einige Steine und legte daraus Muster auf dem Rasen: Einen Kreis, ein Kreuz, und ganz in Gedanken eine Pyramide. Die zerstörte er gleich wieder. Eng umarmte er Sam, er verstand ihn, auch ohne Worte, und er würde nicht einfach weggehen nach Ägypten. Dann kletterte er in sein Baumhaus. Oben im Haus fand er eine alte kleine Schultafel mit Kreide, wie oft hatte sein Vater ihm hier wunderschöne Sachen gemalt. „Ich hasse meinen Vater“, schrieb er auf die Tafel. Dann kauerte er sich zusammen mit dem Kopf auf den Knien, bis zum Abendbrot.

Gleich nach dem Essen ging er ins Bett, konnte aber noch nicht schlafen.

Gegen Abend klingelte es an der Haustür. Es war sein Vater. Seine Mutter ließ ihn in die Wohnung, das tat sie sonst nie. Jasper stand auf und lauschte an der Tür.

„Wie geht es Jasper?“, fragte sein Vater besorgt.

„Er war fast den ganzen Nachmittag im Baumhaus“, antwortete seine Mutter.

„Darf ich in den Garten?“, fragte sein Vater.

„Okay“, sagte die Mutter. „Du willst auch ins Baumhaus, oder?“

Jasper hörte die Terrassentür. Was wollte sein Vater im Baumhaus? Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder Türgeräusche vernahm.

„Es tut mir leid”, sagte sein Vater zu seiner Mutter. „Ich habe das falsch begonnen. Es tut mir auch leid wegen dem Streit vorhin an der Tür. Ich hoffe, Jasper wird mich eines Tages verstehen.“

„Zum Teil sicher“, meinte seine Mutter, „aber ersetzen kann dich das nicht.“

Am nächsten Morgen stand Jasper früh auf und kletterte ins Baumhaus.

Auf der Tafel stand immer noch: „Ich hasse meinen Vater.“ Aber darunter stand: „Aber dein Vater hat dich trotzdem lieb.“ Dann fand er ein kleines Geschenk. Jasper packte es aus.

„Lieber Jasper“, stand auf der beiliegenden Karte, „ich gebe die Hoffnung auf eine Reise mit Dir nicht auf, weil es mir sehr wichtig ist, mit Dir zusammen zu sein. Anbei findest Du den Flugschein für die Reise nach Ägypten und ein Buch über das Land. Bitte entschuldige, dass ich Dir nicht zuerst von meiner Stelle erzählt habe, das war falsch. Es ist Deine Entscheidung, ob Du mit mir auf Reisen gehst, aber ich bitte Dich darum und es würde mich sehr freuen. Dein Papa.“

Jasper las die Karte zweimal und blätterte dann das Buch durch. Die Bilder darin waren wunderschön. Es wäre ein wunderbares Abenteuer und so viele Geschichten könnten daraus entstehen. Vorn fand er eine kleine Zeichnung, die ihn und seinen Vater am Flughafen zeigte. Sein Vater war immer noch ein Künstler. Jasper packte das Geschenk sorgfältig wieder ein, um nichts zu verlieren. Entschieden mitzufahren hatte er sich aber noch nicht. Oder doch?

 

Anke Dittmann ©

 

 

 

 

Der goldene Pokal

 

Als Philipp aufwachte, war er sich sicher, dass er in dieser Nacht den allerschönsten Traum seines Lebens geträumt hatte. Er hielt einen goldenen Pokal in der Hand, er allein. Doch als er erwachte, war alles wie vorher. Er lag allein im Gästebett bei Oma und Opa. Er hatte mit einem schlechten Zeugnis gerade so die Versetzung geschafft. Und statt ein Gewinner zu sein, war er aus der Fußballmannschaft geflogen, weil er sich nach einem verlorenen Spiel mit Niklas, einem Spieler der gegnerischen Mannschaft, doll geprügelt hatte und sich nicht entschuldigen wollte. „Ne, nicht bei dem“, dachte er noch, als die Bilder wieder in ihm auftauchten.

 

Gut, dass die Großeltern ihn eingeladen hatten, denn Zuhause hatte es auch ganz schön Krach gegeben wegen der Prügelei und der Schule. Und dann hat seine Schwester noch dazwischen gefunkt. Luisa, die alles besser kann, die reitet und Turniere gewinnt und die sich wie ein HipHop-Star fühlt, meinte noch, sich über ihn lustig machen zu müssen. Gut, er hätte nicht die Tasse nach ihr werfen sollen, aber es war wirklich unerträglich gewesen.

Immer wenn es hoch her ging Zuhause, luden die Großeltern ihn ein. Dann kam Opa mit dem alten Auto. Das war ein echter Freund. Er holte Philipp ab, stellte kein Fragen und ließ ihn erstmal in Ruhe. Oma war auch ganz in Ordnung, bloß ihr ständiges Klavier spielen, nervte ab und zu. Dafür konnte sie gut kochen und verwöhnte Philipp gern mit seinem Lieblingsessen: Hühnerfrikassee. Wenn Philipp sich nach einem Tag beruhigt hatte, weil Oma und Opa ihn in Ruhe ließen, dann gingen sie oft zu einem Handballspiel. Opa hatte früher einmal selbst Handball gespielt. Das konnte man sich heute gar nicht mehr vorstellen bei dem dicken Bauch. Aber wenn er Philipp etwas erklärte, merkte er, dass Opa wirklich Ahnung von Handball hatte.

Manchmal spielten sie auch zusammen Tischtennis. Dann war Opa richtig froh, weil Oma nicht so gut war im Tischtennis und das Spielen mit ihr deshalb nicht so viel Spaß machte. Nur Football mochte Opa nicht, weil er die Regeln nicht verstand, sonst konnte man ihn mit jeder Sportart begeistern.

Opa hatte viele Pokale im Wohnzimmer auf dem Schrank stehen. Philipp hatte nicht einen. Und der eine Pokal oben links auf dem Schrank, den mochte Philipp besonders. Auf einem Podest stand ein goldener Siegertyp, der die Arme nach oben riss, als hätte er die Welt gewonnen. Philipp stand mit hängenden Schultern davor und schaute nach oben.

„Du hast nicht so ein gutes Jahr gehabt, oder?“, meinte Opa, der plötzlich hinter ihm stand und ihm die Hand auf die Schulter legte.

Philipp nickte und ihm wurden die Augen nass, das war ihm richtig peinlich. Opa hatte es aber nicht gesehen und wenn doch, ließ er es sich nicht anmerken.

„Was wollen wir denn heute anstellen, damit dieser Tag gut wird?“, fragte er dann.

Philipp hatte keine Idee.

„Ich glaube, Oma könnte unsere Hilfe brauchen, sie will den Garten noch auf Vordermann bringen.“

„Tolle Aussichten“, dachte Philipp. „Gartenarbeit, das ist echt anstrengend und wenig lustig.“

Aber er sagte nichts und ging mit.

Oma war schon längst dabei und hatte das Unkraut bereits entfernt, wuchs ja sowieso kaum was, denn sie hatte ihren Garten tip-top in Ordnung. Philipp entdeckte dann eine große Holzplatte, eine merkwürdige grüne Tube und Opas Stichsäge. Auf die Holzplatte hatte Oma einen großen Menschen gemalt.

„Was soll das denn werden?“, fragte Philipp neugierig.

„Eine Vogelscheuche“, antwortete Oma. „Die Vögel fressen mir immer die Beeren weg.“

„So eine Vogelscheuche habe ich noch nie gesehen“, sagte Philipp.

„Deine Großmutter ist eben eine einmalige Frau.“ Opa lachte und zwinkerte Oma verliebt zu.

Dann erklärte er: „Wir beide werden jetzt den Menschen hier aussägen, dann geben wir die Farbe aus der Tube auf die Figur und wenn die Farbe getrocknet ist, malst du die Figur an.“

„Wieso, dann ist doch schon Farbe drauf?“, fragte Philipp erstaunt nach.

„Das Grüne hier ist ja keine normale Farbe“, erklärte Oma. „Das ist der Untergrund für eine Tafel. So können wir die Figur jeden Tag mit bunter Kreide anders anmalen. Ich kann auch mal draufschreiben, woran sich Opa erinnern soll. Zum Beispiel: Rasen mähen nicht vergessen!“

„Oma und Opa sind echt verrückt“, dachte Philipp.

Geduldig zeigte Opa Philipp den Umgang mit der Stichsäge. Das war gar nicht so einfach und Philipp musste erst an einigen alten Brettern üben. Aber dann ging es richtig los, ran an den Mann sozusagen. Opa war ein geschickter Handwerker, er hatte ja auch schon viel für Philipp gebastelt. Das Werkeln machte Spaß. Vorsichtig schälten sie mit der Säge Kopf und Arme aus dem Holz, dann den Körper und die Beine. Die Finger an der Hand und sogar die Zehen – darauf hatte Oma bestanden – hat Opa dann allein gemacht, dass war so fummelig.

Als sie fertig waren, lehnten sie die Figur gegen die Garagenwand und schauten sie von einiger Entfernung in Ruhe an.

„Cool“, entfuhr es Philipp. Denn das sah wirklich schräg aus, weil das linke Bein etwas zu kurz geworden war. Egal.

Opa reinigte die Holzplatte und dann wurde die Platte mit der Tafelfarbe beschichtet.

„Jetzt ist der ganz grün“, stellte Philipp fest.

„So, dass muss jetzt trocknen“, sagte Opa. „Also haben wir Zeit für Saft und Kuchen und eine Runde Tischtennis.“

Während sie sich auf den Gartenstühlen ausruhten, schaute Philipp immer wieder zu der Figur herüber. So hatte er sich die Gartenarbeit nicht vorgestellt. Er grinste Opa an und saß fröhlich aufrecht auf dem Stuhl.

Es dauerte noch lange, bis alles getrocknet war und er endlich mit der bunten Kreide loslegen konnte. Sie malten alle drei zusammen und lachten, weil die Augen schief wurden und Oma unbedingt karierte Hosen malen wollte und Philipp dem Mann eine HSV Raute ins Gesicht malte.

Als sie fertig waren, waren sie zufrieden.

„Abschreckend ist der aber nicht“, meinte Opa lachend.

„Wir binden noch Flatterband an die Arme“, erläuterte Oma. „Und wer weiß, vielleicht sind die Vögel ja Bayern Fans und verschwinden.“

 

Philipp genoss die Tage bei seinen Großeltern und wurde von Tag zu Tag fröhlicher. Noch manch anderes hat Opa ihm gezeigt und durch Omas gute Küche hat er ordentlich zugenommen, was ganz gut war, denn Philipp war spindeldürr, da er Zuhause kaum Appetit hatte.

Am letzten Abend setzte sich Opa abends an sein Bett.

„Morgen musst du nun schon wieder nach Hause“, sagte er traurig. Philipp schluckte.

„Was willst du denn jetzt für einen Sport machen?“, fragte er. Philipp zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, Karate würde gut zu dir passen“, meinte Opa.

„Ich denk` mal drüber nach“, antwortete Philipp.

„Oma und ich haben noch ein Geschenk für dich“, sagte er dann geheimnisvoll und zog einen Gegenstand hinter seinem Rücken hervor. Er war in Stoff eingewickelt.

„Du hast es verdient“, sagte er und rief dann laut: „Lore, er packt es jetzt aus, komm schnell.“

Schon hörte Philipp Oma die Treppe hinauf rennen. Als sie ins Zimmer kam, musste sie erstmal Luft holen. Dann reichte Opa Philipp den Gegenstand.

Vorsichtig wickelte Philipp das Geschenk aus. Seine Augen weiteten sich. Es war ein goldener Pokal mit einer Spielerfigur, die wie ein Gewinner aussah. Unten auf dem Sockel stand sein Name: „für Philipp Junker“. Und weiter stand da: „den besten Enkel der Welt.“

Philipp strahlte und umarmte seine Großeltern, erst Opa und dann Oma. Den Pokal ließ er nicht aus der Hand. Selbst als die Großeltern bereits gegangen waren, hielt er ihn noch in Händen und schlief damit ein.

 

Als er wieder nach Hause kam, stellte er den Pokal auf seinen Schrank nach links.

„Das ist mein erster Pokal“, dachte er und nahm sich vor, wie Opa den ganzen Schrank voller Pokale zu haben. Das würde Opa bestimmt freuen.

Nach den Ferien begann er mit Karate und als er Niklas mal wieder traf, hat er sich zwar nicht entschuldigt, ihm aber immerhin die Hand gegeben. Deshalb durfte er dann doch im nächsten Jahr wieder mitspielen beim Fußball. Und immer, wenn es in der Schule schwierig war, stellte Philipp sich den Pokal von Oma und Opa auf den Schreibtisch und irgendwie ging es ihm dann besser.

 

 

Anke Dittmann ©

 

 

Wer soll die frohe Botschaft zuerst hören?

 

Gott gab dem Engel der Verkündigung den Auftrag, die Geburt seines Sohnes auf Erden bekannt zu machen, damit Josef und Maria im Stall Besuche bekommen können, der ihnen Zuspruch gibt. Doch wem er die Botschaft bringen sollte, sagte Gott nicht.

Der Verkündigungsengel überlegte: „Wenn ich es Herodes verkündige, ist das für Jesus der sichere Tod. Wenn ich es den reichen Händlern und Zöllnern sage, werden sie mir nicht zuhören, da sie mit ihren Geschäften beschäftigt sind. Wenn ich es den Alten sage, können sie sich doch nicht im Dunkeln auf den Weg machen. Wenn ich es den Kindern sage, wird ihnen keiner glauben, wenn sie davon erzählen. Wenn ich es den Frauen erzähle, glaubt ihnen auch niemand, das werden sie später Ostern noch erfahren. Wenn ich es den Pharisäern und Schriftgelehrten sage, werden sie erst den Hohen Rat einberufen, Sitzungen abhalten, in den Schriften forschen, Streitgespräche führen, bis sie sich viel zu spät aufmachen zum Stall. Wenn ich es den Kranken sage, erfahren sie Trost, aber sie können Josef und Maria nicht aufsuchen. Wer hat noch Muße, Gottes Wort zuzuhören und Respekt vor der Botschaft Gottes? Wer macht sich nachts auf in einen Stall, um ein Kind zu sehen? Und wer kommt viel herum und kann es überall erzählen?“

Noch während der Engel überlegte, stieß ihn eine Schäfchenwolke an. Da wusste der Engel, wer geeignet war für diese Botschaft.

„Ich bin bereit, auf die Erde zu gehen“, sagte der Engel zu Gott, „Ich bringe die Botschaft den Hirten, sie sind aufmerksam und fähig, Verantwortung zu tragen. Sie halten sich nicht selbst für wichtig, sondern werden zuhören, sich aufmachen und mit dem Herzen verstehen. Sie werden auch weitersagen, was sie erlebt haben, heute und morgen und überall, wohin sie weiterziehen.“

Gott lächelte. „Eine gute Wahl für meinen Sohn, der den Menschen zum guten Hirten wird“, sagte er.

Und siehe, Gottes Engel trat zu den Hirten und die Klarheit Gottes leuchtete um sie und sie fürchteten sich sehr. Doch der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht. Siehe ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, Gottes Sohn.“

Die Hirten hörten hin und suchten eilend den neuen Hirten der Menschen auf. Und sie erzählten weiter, was der Engel ihnen verkündigt hatte, Josef und Maria und jedem, den sie trafen.

 

Ich frage mich, wäre Christus heute geboren, wem hätte es der Engel wohl verkündigt?

 

Anke Dittmann ©

Eine Reise für einen Cappuccino

Eine Geschichte für meine Tochter zum Geburtstag. Die fettgedruckten Wörter hat sie vorher genannt.

 

Martin war mit seinem Werbeplakat zufrieden. Das war einmal was völlig Neues für ihn. Er war gespannt darauf, wie das Team in der Werbeagentur darauf reagieren würde. Sorgsam legte er den Entwurf in seine Präsentationsmappe und ging in die Besprechung.

„Sie wissen alle“, führte seine Chefin darin aus, „dass wir die große Chance des Kaffeeriesen Josefs Bohne bekommen haben für die neue Cappuccino-Werbung, eine einmalige Chance. Es geht darum, vor allem Männer neu als Kunden zu gewinnen. Ich bin gespannt auf Ihre Ideen und Entwürfe.“

Martins jüngere Kollegen nannten ihre Ideen, manche hatten auch schon Skizzen dabei, manche waren mit ihren Entwürfen noch nicht so weit. Einige hatten Fotos und Fotomontagen auf den Tisch gelegt. Vieles wurde gleich verworfen, es war nicht überzeugend genug.

„Martin, was meinst du?“, fragte die Chefin, die seine Erfahrung schätzte.

„Nun“, begann Martin feierlich, „Ich habe an den kalten Winter gedacht, wo jeder sich über ein warmes Getränk freut.“ Mehr sagte er nicht, sondern zeigte seinen Entwurf aus der Präsentationsmappe.

Die Chefin staunte. Auf dem Bild war ein Drache zu sehen, der leger an einem Cafétisch saß und Cappuccino trank. Er setzte gerade die Tasse ab und aus seinem Drachenmaul kam genüsslich eine Stichflamme, die bei der Frau, die gegenüber am Tisch saß, die Winterkleidung aufblätterte bis zum Sommer-T-Shirt. In einer Sprechblase für den Drachen stand: „JOBO hält die Flamme in mir wach!“ Und drunter stand: „JOBO-Cappuccino sorgt stets für Genuss.“

Martins Chefin war begeistert und das Team auch. Noch in der Besprechung feilten sie am Bild, gaben der Frau mehr Sexappeal und dem Drachen eine deutlich männlichere Note. Auch Martin war damit einverstanden. Er überarbeitete seinen Entwurf daraufhin und gab ihn in die Produktionsabteilung. Der Vorstand von Josefs Bohne war zufrieden und machte den Vertrag und ab November hingen überall im Land die Plakate in Geschäften, auf Litfaßsäulen, an großen Plakatwänden.

 

Martin selbst war durch diese Werbung ein begeisterter Cappuccinotrinker geworden. „Für den Drachen in mir“, sagte er oft in sich hinein, wenn er die heiße Tasse an den Mund führte. Im Büro schielte er dann zu Melissa hinüber, seine neue, junge Kollegin aus dem Verwaltungsbereich. Gern hätte er sie näher kennen gelernt. Doch ihm fehlte dafür eine originelle Idee, um auf sich aufmerksam zu machen.

Aber Melissa war schon auf ihn aufmerksam geworden. Martin faszinierte sie mit seinen Ideen, seiner Art, seiner Höflichkeit, seinem Charme. Außerdem sah er sehr gut aus.

„Woher nehmen Sie immer all die Ideen?“, fragte sie ihn eines Tages, als er sich im Mitarbeiterraum Cappuccino kochte. „Von überall“, antwortete er, „ich schaue mich aufmerksam um, frage nach, lasse meiner Fantasie freien Lauf. Mal was Verrücktes tun, tut auch gut. Hier siezt sich aber keiner im Betrieb, ich bin Martin.“ Er reichte ihr die Hand. „Melissa“, antwortete sie und schlug ein.

„Er ist bestimmt 15 Jahre älter als ich“, dachte Melissa, „und wann habe ich das letzte Mal etwas Verrücktes getan?“ Sie konnte sich nicht erinnern.

„Kann man das lernen, diesen Blick für Ideen?“, fragte sie ihn.

Martin sah seine Chance, Melissa für sich zu gewinnen. „Lass dich einfach mal überraschen“, sagte er geheimnisvoll und ging.

 

Zwei Wochen später war Valentinstag. Eine Woche davor fand Melissa in ihrem Briefkasten ein Pergament, das alt wirkte. Es war aufgerollt und versiegelt, wie ein Brief aus dem Mittelalter und mit einer roten Schleife umgeben. Das Siegel sah aus wie ein Familienwappen. Melissa war neugierig und öffnete sofort.

„Herzliche Einladung zum Valentinstag. Du wolltest den Blick in die Welt der Fantasie wagen, es ist soweit. Komme dazu am 14. Februar um 12 Uhr zur alten Burg. Hochachtungsvoll, Martin.“

Melissa lächelte. Was würde das werden?

Der Tag konnte nicht schnell genug kommen. Melissa war fest entschlossen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

Oben an der alten Burg, die als Ruine über der Stadt thronte, traf sie Martin schon gleich am ehemaligen Burggraben. Er hielt eine Augenbinde in der Hand und einen MP3-Player.

„Schön, dass du da bist“, begrüßte er sie, „herzlich willkommen zu einer Fantasiereise.“

„Ich bin mal gespannt“, sagte sie.

„Ich habe etwas für dich vorbereitet, dazu musst du jetzt diese Augenbinde tragen und dir diese Kopfhörer in die Ohren stecken. Keine Sorge, es ist nur zum Spaß.“

„Kann ich dir denn trauen?“, fragte sie. Martin nickte. „Selbstverständlich.“

Melissa nahm die Augenbinde und band sie sich um den Kopf. Dann stöpselte sie sich die kleinen Lautsprecher in die Ohren.

„Bitte ziehe noch deine Schuhe aus und trage dann diese Flipflops“, bat Martin. „Flipflops? In dieser Jahreszeit?“ Melissa war skeptisch.

„Wir machen eine Zeitreise, damals hatten die ärmeren Menschen auch keine ordentlichen Schuhe. Es ist ja auch nur für einen Moment.“

„Okay, aber nur kurz“, sagte sie.

„Vertrau mir“, beschwichtigte Martin sie.

Melisse konnte nun nichts mehr sehen, zog aber Schuhe und Socken aus. Martin nahm sie ihr ab und gab ihr die Flipflops. Es wurde verdammt kalt an den Füßen. Was würde das werden? So etwas Verrücktes hatte sie lange nicht gemacht.

Martin nahm ihre Hand, es war ein beruhigendes Gefühl, und ließ sie die Burgmauern erspüren. Die Steine waren uneben und rau, als hätten sie viel erleiden müssen. Er führte sie ein Stück und sagte dann: „Ich werde jetzt den MP3-Player anmachen, bitte sprich dann nicht mehr, sondern folge dem, was du hörst und meiner Führung.“

Spannende Musik wie im Film war nun zu hören und mit ihren kalten Füßen stolperte sie dazu der Führung von Martin hinterher. Sie ertastete mit seiner Hilfe ein Holztor und hörte, wie es sich knarrend öffnete. Sie durchschritten es und kamen in eine belebte Straße, sie hörte Händler rufen, Hühner aufgeregt gackern, Pferdegetrappel. Fanfaren ließen Bedeutendes erahnen und als jemand „Zur Seite für den König“ rief, riss Martin Melissa an eine Mauer. Sie hörte rasches Atmen und mehrere Pferde und Radgeräusche. Eine Kutsche war wohl vorübergefahren. „Ob jetzt der Krieg beginnt?“, hörte sie ein kleines Kind fragen. „Möge der König dies verhindern“, antwortete eine sanfte Frauenstimme.

Melissa ließ sich ein auf diese neue Wahrnehmung und hatte das Gefühl, sie könnte nicht nur hören, sondern auch riechen, was um sie geschah. Martin hatte allerdings einige Düfte dabei in verschiedenen kleinen Fläschchen und hielt sie ihr mit in die Nähe der Nase.

Sie gingen vorsichtig weiter. Die Steine auf dem Weg machten jeden Schritt beschwerlich. Melissa spürte das Muster der Pflastersteine unter ihren Füßen, jeder Stein schien ein eigenes Gesicht zu haben.

Jetzt kamen sie bei einem Handwerker vorbei, es waren Schmiedegeräusche. Melissa kannte diese aus dem Freilichtmuseum, auch roch es verkohlt. Martin führte sie in das Haus und ließ sie spüren, ob die Klinge gut war. Melissa schrie kurz auf, als sie die kalte scharfe Klinge berührte. Sie hörte ein Gespräch zwischen Martin und dem Schmied. Martin kaufte das Schwert, nachdem er es in einem kurzen Kampf mit dem Schmiedemeister ausprobiert hatte.

„Jetzt sind wir geschützter, falls uns jemand überfällt“, sagte Martins Stimme ihr ins Ohr.

Und schon hörte sie, wie ihnen jemand in den Weg sprang, der hastig atmete.

„Verräter!“, brüllte dieser jemand und zog ein Schwert. Martin stieß Melissa ein Stück zur Seite, als müsse er in einen Kampf springen. „Martin, Vorsicht!“, rief sie unwillkürlich. Martin lächelte.

„Nicht ich bin der Verräter, sondern du bist der verräterische Geist“, hörte sie ihn rufen und schon war ein Gefecht im Gang. Stöhnen, das helle Aufeinandertreffen der Klingen und Rufe, dass Melissa zur Sicherheit bleiben sollte, wo sie ist, waren zu hören. Melissa machte sich Sorgen um Martin. Doch er ging als Sieger hervor, der vermeintliche Gegner wurde in die Flucht geschlagen. Martin aber wollte sie nun in Sicherheit bringen, weil der Verräter bestimmt mit Verstärkung zurückkehren würde. Wieder tasteten sie sich eine Wand entlang und eine kleine Tür öffnete sich quietschend. Sie gingen hindurch. Jetzt wurde es wärmer an den Füßen und der Boden wurde ebener, doch es roch nach Stroh und Schwein. Melissa rümpfte die Nase. Martin lächelte. Da war das Grunzen auch schon zu hören. Martin setzte Melissa ins Stroh und wärmte ihre Füße mit seinem Mantel. Er packte eine Flasche Wein aus und frisches Brot. Er gab ihr die Flasche in die Hand. Sie trank, dann aß sie ein Stück. „Wir müssen weiter“, sagte die Stimme im Ohr, seine Stimme, auf die sie im Dunkel völlig angewiesen war.

Doch andererseits war es gar nicht mehr dunkel um sie, denn sie hatte die belebte Straße mit all den Händlern gesehen, die Schmiede, den Kampf. Sie sah den Stall, in dem sie jetzt im Stroh saß.

Melissa lächelte. Sie hatte verstanden.

Im Ohr waren jetzt ein Uhu zu hören und eine unheimlich klingende Turmuhr, es war die Zeitansage, wieder zu gehen, heraus aus dieser Reise, zurück in die Gegenwart. Martin zog seinen Mantel wieder an und half Melissa auf. Sie fühlte sich sicher an seiner Hand, das spürte auch er. Nochmals ging es durch die quietschende Tür, dann den unebenen Weg in der Kälte zurück zum Burgtor.

Martin war ein Perfektionist. Er hatte auch jetzt bei den Geräuschen die Details nicht vergessen. Gesprächsfetzen, Tiergetrappel, Geräusche von Marktständen. Als sie nach dem Tor wieder die Wand ertasteten, waren Melissa die Steine vertrauter geworden. Am Ausgangspunkt schaltete Martin das Gerät ab, nahm Melissa die Augenbinde ab und reichte ihr Socken und Schuhe zurück. Doch sie hatte noch gar keine Lust, die Augen zu öffnen. Noch mit geschlossenen Augensagte sie leise; „Danke. Das war perfekt, mein schönstes Valentinserlebnis.“

Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.

„Wollen wir noch einmal so in die Burg?“, fragte er.

„Nein“, sagte sie, „ich will sie heute so in mir behalten, wie ich sie mit verschlossenen Augen gesehen habe.“

Martin packte die Flipflops wieder ein. „Ich gebe zu, Sandalen wären echter gewesen, aber ich habe keine für so kleine Füße wie deine“ sagte er und grinste.

„Und jetzt?“

„Jetzt lade ich dich zum Cappuccino ein – bei mir Zuhause, mir ist kalt“, antwortete Melissa und hakte sich bei ihm ein.

„Eine Sache habe ich übrigens vermisst in der Burg“, sagte sie dann.

„Was denn?“ fragte Martin nach.

„Einen Drachen, wie den auf deinem JOBO-Plakat.“

„Na, den hast du doch jetzt am Arm“, erwiderte Martin und sah dem Rest des Tages genüsslich entgegen.

 

Anke Dittmann ©

Alicias Nussbaum

 

Im Vorgarten meiner Großeltern wächst ein großer Walnussbaum. Darunter stehen zwei Bänke und ein Tisch, die alle einladen zum Verweilen, denn der Vorgarten steht jedem offen. Es ist ein heiliger Baum, sagt meine Großmutter. Aber nicht deshalb, weil Großvater sie darunter zum ersten Mal geküsst hat, sondern weil er eine besondere Geschichte hat. Natürlich hat Großmutter mir diese Geschichte erzählt und ich sage sie euch gern weiter:

 

Es war einmal, als die Menschen Gold am oberen Fluss gefunden hatten, da machten sich aus unserem Dorf auch Greg und Margret auf, um ihr Glück zu suchen. Mit ihnen zog ihre Tochter Alicia. Alle kannten sie, denn sie hatte schönes, langes, rotbraunes Haar.

Der Weg zum Goldfluss war lang, beschwerlich und gefahrvoll und in der Gier wurden die Menschen heimtückisch und kalt. So erging es auch Greg und Margret.

Sie lernten, nur noch an sich zu denken und verlernten Vertrauen.

Am Fluss angekommen fanden sie keinen Ort, wo sie menschenwürdig leben konnten, sie hausten abseits der Städte, die voller Gewalt waren. Dort an einem Nebenarm des Goldflusses suchten sie ihr Goldglück. Umsonst.

Sie hungerten und Alicia weinte oft und Margret weinte, wenn Alicia endlich schlief.

Greg weinte allein im Wald, denn für Männer gehörte es sich nicht, Tränen zu zeigen.

 

Im Wald begegnete er dabei eines Nachts einem Eichhörnchen mit einem goldenen Schwanz. Greg wollte wissen, was es damit auf sich hatte und folgte ihm. Da beobachtete er, wie das kleine Tier Goldnüsse aus einem Erdloch grub. Er hielt sich verborgen und wartete, bis das Tier fort war, dann ging er genau dorthin und grub. Doch, wo es eben noch glänzte, fand er nur braune Nüsse. Und das Eichhörnchen war fort. Greg ging in der nächsten Nacht wieder in den Wald, sah das Eichhörnchen, folgte ihm zu einem anderen Platz und sah die Goldnüsse im Erdloch, wo das Tier grub. Diesmal platzte er aus dem Versteck, verscheuchte das Eichhörnchen und griff zu, doch da waren die Goldnüsse braun wie alle Nüsse. Greg fluchte und entschloss sich, das Eichhörnchen zu fangen. So nahm er in der folgenden Nacht eine Falle mit in den Wald. Er war ein geschickter Jäger und fing das ahnungslose Tier.

Margret und Alicia waren erschüttert, als sie das kleine Tier in dem Drahtkäfig sahen. Nie war Greg so feindlich gegenüber den Tieren gewesen. Er erzählte ihnen die Geschichte mit den Goldnüssen, aber sie glaubten ihm nicht, denn der Goldschwanz des Eichhörnchens war seit der Gefangennahme verblasst und nun rotbraun wie bei allen anderen. Greg wurde mürrisch und Alicia begann, ihren Vater zu fürchten.

Da ihr das Eichhörnchen Leid tat, ging sie in den Wald und suchte Nüsse. Sie verbarg sie unter ihrem Kleid. Als der Vater zum Goldwaschen war, gab sie dem Tierchen eine Nuss. Es aber freizulassen, traute sie sich nicht. Das Eichhörnchen aß die Nuss und Alicia freute sich darüber. Von nun an pflegte sie das Eichhörnchen, sammelte jeden Tag neue Nüsse und war froh darüber, dem kleinen Waldbewohner eine Freude machen zu können. Sie hörte auf zu weinen, während es um den Vater immer düsterer wurde.

Eines Abends, als er wieder kaum Gold gefunden hatte, entschied er in seiner Enttäuschung, das Eichhörnchen zu töten. Da fand Alicia endlich genug Mut, kam ihm zuvor und ließ ihren kleinen Freund frei. Das Eichhörnchen sprang aus dem Käfig und floh in den Wald. Greg fluchte und beschimpfte seine Tochter, fast hätte er sie geschlagen, die Hand hatte er schon gegen sie erhoben, doch auch Alicia entwischte ihm und flüchtete vor ihm in den Wald. Margret weinte, Alicia weinte, während sie in den Wald rann, der Vater tobte.

Als es Nacht wurde, suchte Alicia im Wald Schutz auf einem Baum. Kaum war sie auf einem großen Ast zur Ruhe gekommen, da kam das Eichhörnchen zu ihr. Es brachte ihr eine Nuss. Alicia dankte dem Eichhörnchen, das dann verschwand.

Greg aber war inzwischen bewusst geworden, was er getan hatte. Und zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen waren, dachte er nicht mehr an Gold, sondern an seine Tochter, die allein im Wald war. Er hatte sie vertrieben. Mehr als alles in der Welt wollte er sie wiederfinden.

Er ging in den Wald und rief seine Tochter, aber sie antwortete nicht. Da sah er das Eichhörnchen mit dem goldenen Schwanz. Er schreckte auf. Als das Tier davon sprang, lief er hinterher. Das Eichhörnchen führte ihn zum Baum, wo Alicia saß. Er sah nach oben und im Mondlicht erschienen ihm die rotbraunen Haare seiner Tochter wie Gold zu glänzen. Da erkannte er, wie seine Goldgier ihn geblendet hatte. Und dann sah er seine Tochter so wie früher an, voll Vertrauen und mit Herz. Als er ihren Namen hinauf rief, erschrak sie zunächst und verbarg schnell die Nuss in ihrer Tasche. Greg entschuldigte sich bei Alicia. Er schämte sich, so ein schlechter Vater zu sein, und versprach ihr, den Goldfluss wieder zu verlassen. Alicia war sich unsicher, ob sie ihm vertrauen könnte, gab ihm aber eine Chance.

Gemeinsam gingen sie zu Margret zurück und gleich am nächsten Morgen bereiteten sie ihren Aufbruch vor.

Auf dem Rückweg begegneten sie immer noch vielen Menschen, die der Goldrausch gefangen hatte, als zöge mit ihnen ein kalter Wind vorbei. Die Drei blieben unbeirrt auch ihrem Weg zurück und wussten sie waren frei. Die Nuss aber hütete Alicia noch heimlich bei sich.

Erst, als sie an ihrem Heimatort waren und sich dort wieder ein Zuhause aufgebaut hatten, erzählte sie ihren Eltern von der Begegnung auf dem Baum. Gemeinsam pflanzten sie die Nuss in ihren Garten und pflegten den daraus wachsenden Baum wie einen Freund.

 

Großmutter liebt diese Geschichte und ich liebe sie auch, die Geschichte und die Großmutter.

Viele Leute hat Alicias Baum seitdem erfreut, oft haben sich Menschen unter ihm getroffen zum Gespräch, zum Fest, zum Spiel. Seine Nüsse schmecken gut, wir haben sie schon mit vielen geteilt. Dieser Baum ist mehr als Gold wert, sagt Großmutter. Er ist unser Schatz, eine Kostbarkeit, die man nur mit dem Herzen erkennt.

 

 

Anke Dittmann ©

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