„Was erzählst du wieder für verrückte Geschichten“, sagte Frau Mohn zu ihrem Sohn Jasper, „träumst den ganzen Tag.“
So ganz Unrecht hatte Jaspers Mutter nicht. Jasper war ein Junge voller Geschichten: Wenn andere draußen Fußball spielten, ging er in seiner Fantasie auf Abenteuersuche. Immer dabei war sein Freund Sam, sein treuer Hund, ein kluger Riesenschnauzer, der ihm stets zur Seite stand. „Auf Sam kann ich mich besser verlassen als auf manchen Menschen“, hatte Jasper schon oft gedacht, Sam gestreichelt und ihn mit Leckerlies verwöhnt.
Draußen im Garten auf dem Baum besaß Jasper ein Baumhaus. Wenn er oben im Baumhaus war, bewachte Sam die Stiege nach oben. Das Baumhaus hatte Jaspers Vater ihm noch gebaut, bevor er ausgezogen war. Seitdem war vieles anders geworden. Es gab weniger Streit im Haus, aber es war auch zu still geworden für Jaspers Geschmack, denn mit Papa zusammen hatte er viel unternommen, gebaut und gebastelt. An jedem zweiten Wochenende, wenn er zu Papa fuhr, war einfach zu wenig Zeit dafür.
Eines Tages hatte sein Vater eine Überraschung für ihn. „Weißt du was, Jasper“, begann er feierlich, „wir beide werden eine ganz tolle Reise machen.“
„Wohin?“ fragte Jasper sofort nach.
„Rate mal“, entgegnete sein Vater.
„Ins Deutsche Museum nach München“, riet Jasper, da wollte er schon immer mal hin.
„Weiter weg“, war der Tipp seines Vaters.
„Wir werden wandern in den Bergen, etwa in der Schweiz?“, meinte Jasper dann.
„Noch weiter weg, wir müssen fliegen“, war der nächste Tipp seines Vaters.
„Fliegen?!“, staunte Jasper. Er hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen. „Fahren wir etwa nach Amerika?“
„Falsche Richtung“, antwortete sein Vater, „soll ich es verraten?“
Jasper nickte.
„Wir werden nach Ägypten fliegen“, sagte er betont langsam und bedeutungsvoll.
„Wahnsinn!“, rief Jasper aus, „fahren wir auch zu den Pyramiden?“
Sein Vater nickte.
„Ich werde einen echten Ägypter sehen.“ Jasper schrie fast, weil er so aufgeregt war.
Und im gleichen Atemzug sagte er: „Das erlaubt Mama nie.“
„Hat sie schon“, kam prompt die Antwort seines Vaters.
„Ich glaub es nicht.“ Jasper fiel seinem Vater um den Hals.
„Ist ja gut, mein Kind“, sagte er ganz ruhig, „wenn du mich jetzt erwürgst, können wir allerdings nicht mehr zusammen aufbrechen.“
Seitdem er von der Reise wusste, erzählte Jasper zu Hause die abenteuerlichsten Geschichten. „Stell dir vor, Mama,“ begann er, „wir werden den Nil sehen, den Fluss, in dem Mose im Körbchen ausgesetzt wurde.“ Jasper war katholisch und kannte die Mose-Geschichten noch aus seinem Kommunionsunterricht. „Denk mal an die ganzen alten biblischen Geschichten von den Sklaven und dem Auszug aus Ägypten. Da würde ich gern eine Zeitreise machen und die Plagen miterleben. Oder denk an den Bau der Pyramiden, an all die Schätze, die mit in die Grabkammern gelegt wurden. Vielleicht verirren wir uns während einer Führung in der Pyramide und entdecken eine Grabkammer, die noch niemand gefunden hat. Schade, dass ich Sam nicht mitnehmen darf, der hätte bestimmt noch etwas entdeckt.“
„Beruhige dich, Junge“, hatte Mama nur gesagt, „vielleicht hätte ich doch nicht zustimmen sollen.“
„Doch, doch!“, sagte Jasper sofort und behielt seine Abenteuerideen lieber für sich.
Noch waren es einige Wochen hin bis zur Reise. Sie wollten über Himmelfahrt und Pfingsten fliegen, da hatte Jasper bewegliche Ferientage und 10 Tage am Stück frei. Das war noch so lange hin und Jasper schlief oft schlecht vor Aufregung.
Eines Abends, als er wieder aufgewacht war und noch einmal aufstand, hörte er zufällig ein Telefonat mit, das seine Mutter mit seinem Vater führte.
„Du hast es ihm noch nicht gesagt, Wolfgang, stimmt`s?“ Ihre Stimme klang ernst. „Wenn du es Jasper nicht bald sagst, dann tue ich es. Er hat ein Recht darauf. Er ist fast 12 Jahre alt.“ – „Rede nicht so um den heißen Brei herum.“ – „Nein, ich rege mich nicht künstlich auf.“ – „Wenn du es Jasper am nächsten Wochenende nicht sagst, dann sage ich es ihm. Das ist mein letztes Wort.“
Jasper ging rasch zurück in sein Zimmer. Was war da los? Was sollte sein Vater ihm sagen? War die Reise abgesagt? An Schlaf war nicht mehr zu denken. Aber seine Mutter fragen wollte er auch nicht, dann würde sie vielleicht denken, er habe sie absichtlich belauscht. Er musste einfach abwarten bis zum Wochenende.
Endlich kam das ersehnte Wochenende. Jasper war voller Sorge. Sein Vater schaute verlegen, als er ihn abholte.
Kaum waren sie in seiner Wohnung, kochte sein Vater Kakao und holte Schokoladenkekse hervor. Da wusste Jasper, dass es sehr ernst war.
„Na, ist die Reise abgesagt?“ entfuhr es ihm.
„Nein, wie kommst du denn darauf?“, fragte sein Vater erstaunt.
„Der Kakao, die Schokolade…, ich bin doch nicht blöd, da stimmt was nicht.“ Jasper klang verzweifelt.
„Also, wir fahren auf jeden Fall zusammen nach Ägypten“, beruhigte ihn sein Vater.
„Was ist denn dann los?“, Jasper gab nicht nach.
„Ich werde dir in Ägypten etwas Besonderes zeigen“, sagte sein Vater, „wir werden in Kairo wohnen. Ich habe dort eine Wohnung gemietet. In Kairo gibt es eine deutsche Schule…“
„Ich muss da doch nicht zur Schule, ich habe doch Ferien“, unterbrach ihn Jasper.
„Nein, du sollst da nicht zur Schule, aber ich.“
Jaspers Vater war Lehrer für Deutsch, Kunst und evangelische Religion.
„Du wirst an der Schule in Kairo arbeiten?“ Jasper schüttelte den Kopf, „ab wann?“, wollte er genau wissen.
„Nach den Sommerferien geht es los. Es ist eine tolle Chance für mich. Ich wollte schon immer mal ins Ausland.“
„Wie lange willst du da arbeiten?“, fragte Jasper nach.
„Sechs Jahre.“
„Sechs Jahre?!“, schrie Jasper auf. „Dann bin ich groß, wenn du wiederkommst. Dann erkenne ich dich gar nicht mehr und du mich auch nicht. Warum gehst du so weit von uns weg? Warum hast du es nicht gleich gesagt? Warum hast du mich nicht gefragt?“ Jaspers Gedanken überschlugen sich und in seiner Wut schlug er die Kakaotasse um.
„Jasper, beruhige dich doch“, sagte sein Vater, ging in die Küche und holte ein Wischtuch. „Ich werde jedes Jahr nach Deutschland kommen und dich besuchen und du kannst mich besuchen. Vielleicht kannst du später auch ein Jahr einmal in Kairo bei mir wohnen und dort zur Schule gehen.“
Jasper sprang auf. „Einmal im Jahr…, vielleicht später mal…. Das ist zu wenig! Ich will nach Hause zu Mama.“
„Lass uns doch darüber reden.“ Jaspers Vater versuchte ruhig zu bleiben, „überlege doch, was wir dort alles zusammen erleben können. Denk an die Abenteuer, die auf dich warten, die Pyramiden, die Krokodile…“
„Pinguine sind mir lieber!“, warf Jasper trotzig ein und blieb stehen, „ich will nach Hause. Und ich fahre dann lieber mit Mama an die Ostsee.“
„Versuch doch, mich zu verstehen“, bat sein Vater.
„Ich ruf Mama an, sie kann mich sofort abholen.“ Jasper blieb hart.
Sein Vater gab auf.
Wenig später kam Jaspers Mutter, um ihn abzuholen. Als Jasper schon im Auto saß, sprachen seine Eltern noch in der Tür miteinander. Sie würden sich wieder streiten, das spürte Jasper genau.
Kurz danach kam seine Mutter mit hochrotem Kopf zurück, setzte sich ins Auto und knallte die Tür zu. Schweigend fuhren sie nach Hause.
Als Jasper wieder in seinem Zimmer war, nahm er das Bild von seinem Vater, welches immer auf seinem Nachttisch stand, weg und legte es ganz nach hinten in die Schreibtischschublade. Sein Vater hatte ihn getäuscht, wie damals, als er ausgezogen war. Da hatte er ihm erst ein Meerschweinchen oder ein Kätzchen versprochen und dann gesagt, was los war.
Jasper ging aus dem Zimmer, rief Sam und ging mit ihm in den Garten. Lustlos sammelte er einige Steine und legte daraus Muster auf dem Rasen: Einen Kreis, ein Kreuz, und ganz in Gedanken eine Pyramide. Die zerstörte er gleich wieder. Eng umarmte er Sam, er verstand ihn, auch ohne Worte, und er würde nicht einfach weggehen nach Ägypten. Dann kletterte er in sein Baumhaus. Oben im Haus fand er eine alte kleine Schultafel mit Kreide, wie oft hatte sein Vater ihm hier wunderschöne Sachen gemalt. „Ich hasse meinen Vater“, schrieb er auf die Tafel. Dann kauerte er sich zusammen mit dem Kopf auf den Knien, bis zum Abendbrot.
Gleich nach dem Essen ging er ins Bett, konnte aber noch nicht schlafen.
Gegen Abend klingelte es an der Haustür. Es war sein Vater. Seine Mutter ließ ihn in die Wohnung, das tat sie sonst nie. Jasper stand auf und lauschte an der Tür.
„Wie geht es Jasper?“, fragte sein Vater besorgt.
„Er war fast den ganzen Nachmittag im Baumhaus“, antwortete seine Mutter.
„Darf ich in den Garten?“, fragte sein Vater.
„Okay“, sagte die Mutter. „Du willst auch ins Baumhaus, oder?“
Jasper hörte die Terrassentür. Was wollte sein Vater im Baumhaus? Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder Türgeräusche vernahm.
„Es tut mir leid”, sagte sein Vater zu seiner Mutter. „Ich habe das falsch begonnen. Es tut mir auch leid wegen dem Streit vorhin an der Tür. Ich hoffe, Jasper wird mich eines Tages verstehen.“
„Zum Teil sicher“, meinte seine Mutter, „aber ersetzen kann dich das nicht.“
Am nächsten Morgen stand Jasper früh auf und kletterte ins Baumhaus.
Auf der Tafel stand immer noch: „Ich hasse meinen Vater.“ Aber darunter stand: „Aber dein Vater hat dich trotzdem lieb.“ Dann fand er ein kleines Geschenk. Jasper packte es aus.
„Lieber Jasper“, stand auf der beiliegenden Karte, „ich gebe die Hoffnung auf eine Reise mit Dir nicht auf, weil es mir sehr wichtig ist, mit Dir zusammen zu sein. Anbei findest Du den Flugschein für die Reise nach Ägypten und ein Buch über das Land. Bitte entschuldige, dass ich Dir nicht zuerst von meiner Stelle erzählt habe, das war falsch. Es ist Deine Entscheidung, ob Du mit mir auf Reisen gehst, aber ich bitte Dich darum und es würde mich sehr freuen. Dein Papa.“
Jasper las die Karte zweimal und blätterte dann das Buch durch. Die Bilder darin waren wunderschön. Es wäre ein wunderbares Abenteuer und so viele Geschichten könnten daraus entstehen. Vorn fand er eine kleine Zeichnung, die ihn und seinen Vater am Flughafen zeigte. Sein Vater war immer noch ein Künstler. Jasper packte das Geschenk sorgfältig wieder ein, um nichts zu verlieren. Entschieden mitzufahren hatte er sich aber noch nicht. Oder doch?
Anke Dittmann ©