Zur Geschichte der Heilung des blinden Bartimäus
Jeden Morgen ziehe ich mit meinem Karren durch Jericho, erst durch die Gassen, dann durch das Stadttor hinaus. Holz holen. Jeden Morgen. Heute ist aber etwas anders, ich kann nur nicht sagen, was. Gut, dass ich Simon treffe, meinen alten Nachbarn, den kann ich fragen. „Weißt du, was heute anders ist?“ „Anders?“, fragt er nach, lächelt dann und sagt:“ Der schreiende Bartimäus am Stadttor fehlt, falls du das meinst, und das für dich von Bedeutung sein sollte.“ Der schreiende Bartimäus? Der war mir nie aufgefallen, zumindest nicht bewusst. „Was war denn mit dem?“, frage ich nach. „Das weiß doch jeder“, entgegnet mein Nachbar. „Der war blind und bettelte jeden Tag am Stadttor. Eine laute Stimme hatte der, unüberhörbar.“ „Und jetzt? Wo ist er jetzt?“, will ich wissen. „“Joschua“, sagt Simon auf einmal mit würdiger Stimme, „wo lebst du eigentlich? Manchmal denke ich, das Leben zieht an dir vorüber, ohne dass du es wahrnimmst. Die ganze Stadt redet davon! Er ist geheilt von diesem Wanderprediger Jesus.“ Jesus? Nie gehört, schießt es mit durch die Kopf. „Und jetzt kann er wieder sehen?“, denke ich dann laut. „Richtig. Und deshalb sitzt er nicht mehr am Stadttor und schreit“, ergänzt Simon. „Das ist also anders. Ich muss jetzt aber weiter. Shalom, Joschua.“ „Shalom und Danke“, rufe ich ihm nach und ziehe ebenfalls meiner Wege.
Als ich mit dem voll Holz geladenen Karren in die Stadt zurückkomme, schaue ich das erste Mal beim Stadttor wirklich hin. Ein Platz unter den Bettelnden ist tatsächlich leer. Aber so viele andere sitzen noch da. Ich kann heute nicht anders und ziehe meinen Karren langsamer. Ich muss jedem ins Gesicht sehen: den Blinden, den Lahmen, den Alten und Schwachen, die mir ihre Hände entgegenstrecken. Ich hatte sie vorher nie so gesehen. Es fällt mir jetzt schwer, einfach so an ihnen vorbei zu ziehen. Zuhause lege ich mir einige Früchte zurecht. Morgen werde ich ihnen etwas davon in ihre Hände legen. Als ich an diesem Abend zum Schlaf die Augen schließe, weiß ich, dass ich heute neu sehen gelernt habe. Und dieser Jesus? Auf den bin ich neugierig geworden.
Anke Dittmann
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