Jonatan

Erzählpredigt zu Weihnachten

©Anke Dittmann

Es begab sich aber zu der Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war, da lebte ein junger Hirte mit Namen Jonatan in der Nähe von Bethlehem. Er war noch nicht lange ein Hüter der Schafe. Auf seiner Flucht aus Jericho hatte er Elia getroffen, einen alten Hirten, der ihm Unterschlupf gewährte und ihn schließlich bat, bei ihm zu bleiben. Elia war alt. Er wusste, er konnte die Tiere nicht mehr schützen. Da er keinen Sohn hatte, dem er sein Wissen vermitteln konnte und der einmal seine Tiere übernehmen würde, kam ihm der flüchtige Jonatan sehr zupass. Auch spürte er die Einsamkeit des jungen Mannes, der ohne Zuhause zu sein schien. Doch das allein war ja nicht ungewöhnlich in seiner Zeit.

Elia war ein weiser Alter, er drängte Jonatan nicht, seine Geschichte zu erzählen. Er konnte warten.

Jonatan lebte sich gut ein auf dem kargen Gelände um Bethlehem. Er lernte schnell, erkannte gute Weideplätze, merkte sich die Wasserstellen und war flink mit der Schleuder. Den Umgang mit Waffen war er wohl gewöhnt, beobachtete Elia. Es dauerte nicht lange, bis er herausgefunden hatte, dass Jonatan aus gutem Hause kam. Er konnte lesen und schreiben. Er kannte viele Psalmen auswendig. Und er konnte ebenso gut feilschen auf dem Markt. Elia hatte Vertrauen zu ihm und übergab ihm alles Geld, was er hatte. Es war erstaunlich, was Jonatan daraus für Gewinne zog. Er musste von Kind auf viel gelernt haben. Doch sprach Jonatan immer noch nicht von sich.

Wenn sie abends draußen auf den Feldern blieben, erzählte Elia am Feuer. Jonatan kannte niemanden, der so viele Geschichten in sich trug. Elia kannte die Geschichte Israels und schmückte sie aus wie kein anderer. Wenn Elia die Geschichte Israels lebendig werden ließ, sah Jonatan den König David gegen Goliath kämpfen, er sah Salomos Tempel entstehen, er sah das zerstörte Jerusalem vor sich und die Gefangenen auf ihrem Transport nach Babylon. Elias Geschichten lebten von seinem Glauben. Immer war es der unerschütterliche Gott, der handelte, der Bauten gelingen ließ, der den Kleinen Kraft gab gegen die Großen, der auch strafte, wo Menschen sich von ihm abwandten.

Eines Abends, als Elia die Geschichte von König Kyros erzählte, der als Werkzeug Gottes die Gefangenen Babylons befreite, konnte Jonatan nicht mehr schweigen.

„Du kannst wunderbar  die Geschichten aus alter Zeit erzählen, Elia“, sagte er. „Aber erzähle mir doch bitte einmal, wo heute noch dieser Gott, dem du so vertraust, am Werk ist.“

„Traust du Gott heute nichts mehr zu, Jonatan?“, wollte Elia wissen.

„Wie denn?“ entgegnete dieser ungewöhnlich scharf im Ton. „Er schaut doch nur zu, wie sein Volk zugrunde geht.“

„Er wird uns seinen Retter schicken“, warf Elia ein.

„Wie lange willst du denn noch darauf warten?“ Jonatan machte eine ablehnende Handbewegung, stand auf und ging zu den Tieren. „ich schaue noch einmal nach, ob bei den Schafen alles in Ordnung ist.“

Elia ließ Jonatan gehen. Er verstand seine Sorge, denn auch er wusste um das Elend im Volk.

Am nächsten Morgen musste Jonatan ins Dorf gehen, für die kommenden Tage brauchten sie etwas mehr Proviant. Als er aus Bethlehem zurückkam, hatte er ein verächtliches Lächeln auf den Lippen. „Im Dorf sind sie völlig aufgeregt“, erzählte er Elia. „Augustus hat befohlen, dass alle Menschen in seinem Reich gezählt werden sollen, wegen den Steuern natürlich. Nun muss jeder Mann in den Ort, wo er geborgen wurde. Ein Durcheinander ist das!“

„Wo musst du denn nun hin?“. Fragte Elia.

„Ich?“, entgegnete Jonatan verwundert, „ich bin wie tot, warum sollte ich irgendwo geboren sein? Es wird schon nicht auffallen, wenn ich fehle. Und du?“

„Ich bin hier aus Bethlehem“, antwortete Elia.

„Glück gehabt!“, meinte Jonatan und verschwand auf den Feldern.

Am Abend fragte ihn Elia: „Hast du noch mehr gesehen in Bethlehem?“

„Willst du es wirklich wissen?“, fragte Jonatan zurück.

„Du bist ein kluger junger Mann, hast scharfe Augen und einen klaren Verstand. Du hast es gelernt hinzusehen.“

Jonatan erschrak darüber, dass Elia ihn besser kannte, als es ihm lieb war. „Ich wünschte, ich könnte meine Augen schließen, hätte keinen Verstand und würde wie die Schafe nur einem guten Hirten hinterherlaufen“, sagte Jonatan niedergeschlagen und fuhr fort: „Ich sah römische Soldaten, sie trieben die Menschen wie Tiere auf dem Marktplatz zusammen, damit sie dem Ausrufer zuhörten. Es waren auch Frauen und Kinder dabei, denen das Entsetzen und die Angst im Gesicht standen. Gegen die bewaffneten Römer waren sie wehrlos. Noch mehr Steuern, das heißt, die Menschen werden noch mehr Hunger leiden. Und die Steuern sind doch nur für die vielen Kriege und Eroberungen bestimmt. Wie sind nicht mehr frei, Elia. Und Gott? Ich frage dich, wo ist dein Gott?“

Elia senkte den Kopf und sagte leise: „Auch wenn du mir nicht glaubst, Jonatan, ich stelle mir diese Frage auch und kann trotzdem nicht aufhören zu glauben.“

Er legte Jonatan die Hand auf die Schulter. Den Rest des Abends schwiegen sie.

Am nächsten Morgen machten sie sich auf mit der Herde gen Westen. Es war abgelegenes Land, sicherer für Jonatan. Als sie an diesem Abend den Feuerplatz einrichteten, sagte Jonatan: „Heute, Elia, erzähle ich dir meine Geschichte.“

Elia merkte, wie froh er über diesen Schritt Jonatans war, der ihm wie ein eigener Sohn ans Herz gewachsen war.

Nachdem die Tiere versorgt waren, begann Jonatan zu erzählen: Von seinem Zuhause in Jericho, von seinem Vater, dem guten Stoffhändler, von seinem reichen Leben ohne Not. Er erzählte von den Spielen mit seinen Geschwistern, von seiner Freude in der Synagoge die alten Schriften zu lesen und darüber zu diskutieren. Auch ließ er es nicht aus, Elia davon zu berichten, wie er kämpfen gelernt hatte. Der Umgang mit dem Schwert gab ihm ein Gefühl von Kraft und Macht. Doch seit immer mehr Menschen in Jericho mit den Römern zusammenarbeiteten, war das Leben schwerer geworden. Die Zölle stiegen ins Unermessliche. Sein Vater hatte viel Geld verloren und war darüber in Streit geraten mit seinem Nachbarn, der jetzt Oberzöllner war.  „Mein Vater kann Ungerechtigkeit nicht ertragen“, sagte Jonatan. „Er scheute sich nicht, unseren Nachbarn auch öffentlich anzugreifen. Das haben wir teuer bezahlt. Eines Tages kamen die Römer in unser Haus, plünderten, schlugen alles kurz und klein. Meinen Vater haben sie halb tot geschlagen und verschleppt. Meine Mutter brutal entwürdigt. Ich, der Älteste, was gerade nicht zu Hause, als es geschah, sonst hätte ich sie verteidigen können. Ich ging hinterher zu unserem Nachbarn, der uns angeschwärzt hatte, und habe Rache genommen.“

Jonatan stockte einen Moment. „Ich war starker als er und er erlag schon am Boden. Aber ich habe es nicht geschafft, ihn zu töten. Und dieser Schuft hat darüber gelacht – dieses Lachen werde ich nie vergessen, es trieb mich aus seinem Haus.“

Elia sah Jonatan durch die Augen ins Herz. Jonatan konnte nicht mehr weitersprechen. Elia tat es für ihn. „Deine Mutter meinte dann, es sei besser, wenn du dich in Sicherheit bringst?“ Jonatan nickt. „Und wir Hirten, verachtet am Rande der Gesellschaft, sind da ein guter Schutz“, sagte er und dachte: „Auch er wird dieses Unrecht nie ertragen können und zerbrechen, wenn er keine Hoffnung findet.“

Am nächsten Morgen schien Jonatan gelöster zu sein. „Ich bin froh, dass du es nun weißt“, sagte er zu Elia.

Es wurde danach eine stille Woche zwischen beiden, bis sie, als ihre Vorräte verbraucht waren, zurückkehrten nach Bethlehem.

Dort trafen sie gleich am ersten Abend mit anderen Hirten zusammen. Alle waren in Aufregung. Die Volkszählung war immer noch nicht abgeschlossen, eine ganzes Land war auf den Beinen, im Dorf selbst fand keiner mehr eine Unterkunft.“

„Gut, dass wir es gewohnt sind, draußen zu schlafen“, lästerte Amos, ein angereister Hirte aus Beer Schewa. „Aber was machen die, die alte und krank sind, was machen die müden Kinder. Ich habe ein Paar eine Herberge suchen sehen, wo die Frau hochschwanger ist, die wird ihr Kind noch auf der Straße zur Welt bringen müssen“, meinte er.

„Schlimme Zeiten sind das“, stöhnte Elia. Und Jonatan wunderte sich über die Hoffnungslosigkeit in seinen Worten.

In dieser Nacht blieben die Hirten nah beisammen aus den Feldern. Elia und Jonatan hatten die Wache für die Tiere der Hirten übernommen, die wegen der Zählung nach Bethlehem gekommen waren. So blieben sie wach, während die anderen zu schlafen versuchten.

„Du musst dich vielleicht doch besser in Sicherheit bringen“, meinte Elia zu Jonatan.

„Ich hatte gehofft, diese Zählerei hätte schon ein Ende“, erwiderte dieser. „Ich werde darüber nachdenken.“

Nach langer Stille sagt er dann: „Du hast lange keine Geschichte mehr erzählt, Elia.“ Doch dieser antwortete ihm nicht.

In der Mitte der Nacht stieß Jonatan Elia an. „Bin ich wieder eingeschlafen, ich alter Esel“, schimpfte dieser über sich selbst.

„Schau mal in den Himmel“, forderte ihn Jonatan auf.

Elia sah nach ober und konnte nichts entdecken.

„Es ist heller als sonst“, meinte Jonatan.

Elia strengte seine Augen an. „Meint du? Ich weiß nicht“, zweifelte er.

Da sahen beide aber auf einmal Licht vom Himmel herabkommen. Unwillkürlich fassten sie sich an. Die anderen Hirten erwachten, als das Licht näherkam. Sie rückten zusammen und starrten nach oben. Das Licht wandelte sich erkennbar in eine Gestalt, die ruhig und sanft zu ihnen sprach: „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch eine große Freude! Der Messias ist heute geboren. Ihr werdet das Kind in einem Stall in Bethlehem finden. Es ist der Retter. Geht und seht, wie Gott euch liebt.“

Als diese Worte gesprochen waren, wurden mehr und mehr Lichtgestalten erkennbar. Einige am Himmel, andere aber hinter einem jeden Hirten. Gemeinsam sangen sie. Jonatan hörte nur ein Wort: Frieden. Dann war alles wieder dunkel.

Jonatan sah ein Leuchten in Elias Augen. Das war die Botschaft, auf die er so lange gewartet hatte.

Jonatan aber konnte es kaum glauben. „Lasst uns sehen, ob es wahr ist, was zu uns geredet wurde“, rief er.

Noch wie im Taumel schlossen sich ihm alle Hirten an, so zogen sie nach Bethlehem, fanden den Stall, Maria und Josef und das Kind.

„Das ist das Paar, von dem ich erzählt habe“, flüsterte Amos im Stall.

Elia trat hervor und ging auf Maria zu. Er erzählte ihr von den Worten der Himmelsboten. Und sie teilten mit den jungen Eltern von dem Proviant, den sie bei sich trugen, und sprachen Segengrüße aus für das Kind.

Jonatan blieb erst abseits. Seine Augen musterten den Stall, den müden Vater an der Krippe, das erschöpfte Lächeln der Mutter. So hatte er sich den Messias nicht vorgestellt. Doch dann spürte er in sich einen Drang, zur Krippe zu gehen. Es war wie ein Schubs. Er dachte an die Gestalt, die er vorhin auf dem Feld kurz hinter sich gefühlt hatte. Maria lud ihn ein, Jesus einmal in den Arm zu nehmen.

„Wie soll er der Messias sein?“, platzte es aus Jonatan heraus.

Maria lächelte ihn an und erzählte von ihren Engelsbegegnungen. Und so wie Maria die Worte der Hirten in ihrem Herzen bewegte, nahm Jonatan ihre Worte in sich auf: von Jesus, dem verheißenen Kind, in dem Gott die Niedrigen erhebt, die Hungrigen speist, Barmherzigkeit üben wird. Jonatan blickte wieder auf das Kind und dachte an das, was er auf dem Feld gehört hatte: Frieden.  „Friede sei mit dir“, sagt er zu dem Kind und legte es vorsichtig zurück in die Futterkrippe.

Die Hirten blieben nicht allzu lang. Sie wollten die kleine Familie nicht stören. Auch drängte es sie, weiter zu erzählen, was sie gehört und gesehen hatten. Nur Elia und Jonatan gingen zu den Herden zurück. Am Feuer brach Elia ihr Schweigen mit einer alten Weissagung, die Jonatan nur zu vertraut war: „Und ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst, auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende in seinem Königreich, dass er´s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.“

„Es wird ein anderer Weg werden als gedacht“, sagte Jonatan. Elia nickte.

„Und doch fühle ich mich diesem Weg so nah, warum nur?“, fragte er Elia.

Dieser wusste die Antwort: „Weil du selbst im Moment des größten Hasses, den Zöllner nicht töten konntest. Dieses Kind wird dich brauchen, Jonatan, schließe dich ihm an, wenn es so weit ist.“

Es gingen noch Jahre ins Land, bis Jonatan Jesus als Erwachsenen wiedersah. Aber er hatte das Warten gestalten gelernt, denn die Hoffnung hatte ihn wieder lebendig gemacht. Sein Vertrauen auf Gerechtigkeit und möglichen Frieden war in ihn zurückgekehrt. Die Freude der Engelsbotschaft fühlte er um und in sich. Willig hörte und lernte er noch von Elia, solange er an seiner Seite lebte, lernte Sorge zu tragen für das Leben und erkannte die Wahrheit der alten Geschichten. Und, wie Elia, erzählte er überall davon und lebte die Friedensbotschaft, die den Hirten verheißen war.

Erst als Jünger Jesu aber traute er sich wieder nach Jericho. Den alten Nachbarn gab es nicht mehr, aber den neuen raffsüchtigen Zöllner Zachäus, der sich durch Jesus verwandeln und befreien ließ.

Seine Familie suchte Jonatan auch wieder auf. Sein Vater war krank durch eine lang erlebte Kerkerhaft, doch ungebrochen in seinem Glauben an Gerechtigkeit. Jonatan hatten ihnen viel zu erzählen, von Elia und unzähligen Gesprächen am Feuer, vom Hüten der Schafe, von dem Licht von Bethlehem und von den Engeln, denen im Himmel und denen auf Erden.

Dann zog er weiter an der Seite von Jesus mit nach Jerusalem und konnte leben, was er schon immer in sich als Lebensweg empfunden hatte.

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