Eine Weihnachtsgeschichte
Wenn ich nach Hause komme nach Bethlehem, dann ist mein erster Stopp immer bereits draußen vor dem Dorf, auf der Wiese, wo der Stall steht. Jedes Jahr wundere ich mich, dass er noch steht, denn er ist ein bisschen schief, als würde er den Wind einladen, ihn um zu pusten. Aber der Stall hält.
„Er wird ewig halten“, hat mein Großvater immer gesagt. Er muss es wissen, er hatte ihn gebaut. Ich habe meinen Großvater sehr geliebt. Er ist der Grund, warum ich jedes Jahr so gern nach Bethlehem zurückkomme. Hier kann ich mich am besten an ihn erinnern.
Als er älter wurde, hat mein Großvater um den Stall herum einen Zaun gezogen. Aber das war erst lange nach der Nacht der Nächte. Er fing im Alter an, alte Esel aufzunehmen. Sie haben bei ihm das Gnadenbrot bekommen. Dass ihn dafür so mancher für verrückt hielt, störte ihn nicht. Er wollte Gutes tun und die Esel weckten Erinnerungen. In den Jahren davor hatte er den Stall nur genutzt für die Tiere von Gästen. Denn mein Großvater war Gastwirt.
Ich nähere mich dem Zaun und schon kommt einer der Esel zu mir. Ich mag diese grauen Vierbeiner, auch wenn sie so störrisch sein können. Natürlich habe ich eine Möhre dabei, das ist Tradition.
Der Zaun ist für mich kein Hindernis. Und mein Ziel ist natürlich der Stall. Wenn ich den Zaun überwunden habe, folgen mir manche Esel. So wie damals Großvater. Die Tiere wissen, wer sie mag.
Als ich noch ein Kind war, ging Großvater oft mit mir in den Stall. Wir setzten uns auf das Stroh und er erzählte. Es war immer dieselbe Geschichte, aber ich konnte sie gar nicht oft genug hören. Und ich erinnere mich genau. Wenn ich heute im Stall auf dem Stroh sitze, geht sie mir wie selbstverständlich durch den Kopf.
Als Großvater sehr alt geworden war, schnaufte er schon ein wenig, wenn es den leichten Hügel bergan ging. Im Stall angekommen, musste er sich erst einmal ausruhen, als hätte er eine lange Reise hinter sich gebracht.
„Weißt du“, begann er dann, „so erschöpft waren die beiden damals auch, der Josef und vor allem die Maria, als sie hier in Bethlehem ankamen. Was für ein Irrsinn, hochschwanger auf die Reise zu gehen, aber sie mussten ja. Der Kaiser wollte es so. Und die Römer hatten das Sagen, wie heute noch. Die beiden taten mir leid, aber ich hatte wirklich kein Zimmer mehr frei. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was damals los war, überall Menschen, dazu Karren, Esel, Geschrei und Gestank. Viele bauten sich schon ein einfaches Lager an der Straße. Man hätte meinen können, sie wären auf der Flucht.“
Großvater machte an dieser Stelle immer eine Pause und atmete tief ein. „Weißt du, Junge“, sagte er dann, „ich habe schon so viel Elend auf den Straßen gesehen.“ Er schüttelte den Kopf und schloss für einen Moment die Augen. „Aber bei diesen beiden, dem Josef und der Maria, da musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich konnte sie nicht einfach so wegschicken. Maria war noch so jung und in ihren Augen sah ich auch Angst. So schickte ich sie mit ihrem Esel in diesem Stall. Damals hatte ich noch den alten Ochsen von Joses dort stehen, aber zum Glück kamen die beiden miteinander aus. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das junge Paar dort allein zurückzulassen, aber was sollte ich tun, meine Herberge war voll. Wir hatten viel zu tun, deine Großmutter und ich. Mit all den Gästen konnte ich sie doch nicht einfach allein lassen.“
Meist, wenn wir im Stall saßen, kam einer der alten Esel durch die offene Stalltür und stupste meinen Großvater mit dem Kopf. Großvater hatte immer eine Möhre dabei und gab sie dem Esel. Dann graulte er ihn hinter den Ohren. Der Esel ließ sich bei uns nieder, als wollte er hören, wie die Geschichte weiterging.
„Kommt jetzt das große Licht?“ fragte ich meinen Großvater.
„Genau, Simon. Das heißt, ich habe es gar nicht bemerkt. Großmutter war es, die mich darauf aufmerksam machte. Der Himmel vor Bethlehem war hell erleuchtet und deine Großmutter war überzeugt davon, dass sich dort etwas am Himmel bewegte. Naja, ich hab´ ihr nicht geglaubt. Eine Zeit danach kamen dann Hirten durch das Dorf. Sie riefen in die Häuser hinein: ‚Der Retter ist geboren. Ein Engel hat es uns erzählt und wir haben den Heiland mit eigenen Augen gesehen. Da draußen im Stall. Nun kommt endlich Frieden.‘ So riefen sie immer wieder. Meine Gäste schauten verwirrt, einige lachten. ‚Geht wieder zu euren Schafen‘, riefen sie. Du weißt ja, mit den Hirten will keiner etwas zu tun haben, sie gelten als rau, sind dreckig und so arm, dass alle ihre Geldbeutel festhalten, wo sie auftauchen. Nach einer Weile verschwanden die Hirten wieder. Es kehrte Ruhe ein.“
Großvater kraulte den Esel. Dann fuhr er fort: „Ein Retter im Stall? Mich ließ das aufhorchen. Sollte das Kind schon geboren sein? Ich verließ die Herberge und schlich mich an den Stall heran. Durch die Ritzen sah ich dann das Kind im Futtertrog liegen. Im Futtertrog! Maria sah erschöpft aus und Josef besorgt, aber auch erleichtert. ‚Was für eine Zeit, wo Kinder im Stall geboren werden und in eine Krippe gelegt werden müssen‘, dachte ich noch. Dann ging ich zur Herberge zurück und schickte deine Großmutter zu ihnen mit frischem Wasser und etwas Brot. Es dauerte eine Weile, bis sie wiederkam. Die drei haben sich wohl gut unterhalten. Auf jeden Fall wusste sie, dass das Kind Jesus hieß und dass die Geburt den Umständen entsprechend gut verlaufen war. Sie brachte Maria dann noch saubere Tücher und meinte, die drei bräuchten jetzt vor allem Ruhe.“
An dieser Stelle habe ich oft daran gedacht, was meine Mutter mir von meiner Geburt erzählt hatte. Wir waren auch hierher nach Bethlehem gereist, ich noch im Bauch. Aber es waren noch Wochen hin zur Geburt und meine Großmutter war dann dabei und half. Und ich bekam einen wunderbaren Platz auf einer Strohmatte und hatte es warm. Großmutter half uns so viel, dass meine Mutter sich gut erholen konnte.
Großvater lächelte mich dann an. „Na, denkst du daran, wie gut du es hattest?“, sagte er, als könnte er Gedanken lesen.
Oft stupste der Esel dann mich an. Er wollte wohl noch eine Möhre, aber ich hatte keine. So trottete er wieder nach draußen. Vielleicht mochte er das Ende der Geschichte nicht, weil nun die vornehmen Leute kamen.
„Zur Ruhe kamen die drei aber nicht“, erzählte Großvater weiter. „Denn ein heller Stern war über dem Stall aufgegangen. Und dieser lockte drei seltsame Gestalten herbei, – echt vornehm, mit Kamelen und Dienern, und die Kamele trugen ihre Satteltaschen voll mit kostbaren Sachen. Ich konnte nicht anders, als den dreien zu folgen. Ich hatte ja schon so eine Vermutung. Und so kam es dann auch. Sie gingen in den Stall. Das war ein geradezu irrwitziges Bild. Drei Menschen, die wie Könige aussahen, vor dieser schrägen Hütte. Aber sie zögerten nicht und gingen hinein. Und da sie die Tür offenließen, konnte ich sehen, wie sie auf die Knie fielen. Und sie beteten das Kind an.
Dann packten sie Geschenke aus. Maria und Josef waren ganz verwirrt, nahmen aber die Geschenke artig an. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, gingen diese vornehmen Herrn wieder, allerdings nahmen sie eine andere Route, das habe ich gleich gemerkt. Der Stern blieb noch über dem Stall. Es war schon eine seltsame Nacht.
Ich habe mich schließlich zur Ruhe gelegt, aber weder Großmutter noch ich konnten damals einschlafen. Mit diesem Kind stimmte etwas nicht. Den nächsten Tag ließen wir die drei in Ruhe. Großmutter brachte nur noch einmal Essen, Wasser und frische Tücher.
Und am dritten Tag waren sie auf einmal weg, wie vom Erdboden verschwunden. Sie haben sich nicht einmal verabschiedet. Aber letztlich war es gut, dass sie weg waren, denn kurz darauf kamen die Soldaten von Herodes und suchten das Kind. Da war ich dankbar, dass es in Sicherheit war.“
Wieder machte Großvater eine Pause, doch ich wusste, die Geschichte war noch nicht zu Ende.
„Naja, du weißt ja, mein Junge“, sagte er dann. „Dieses Kind war noch einmal hier. Da war dieser Jesus aber schon erwachsen. Viele folgten ihm. Er tat Wunder und erzählte von Gott. Das hat mich auch beeindruckt. Und als er hier durch den Ort ging, stand ich am Straßenrand. Da blieb er direkt bei mir stehen und legte mir die Hand auf die Schulter. ‚Gott segne dich‘, sagte er. Ich habe mich von ihm erkannt gefühlt, so als hätte er gewusst, dass er in meinem Stall zur Welt gekommen war. ‚Es tut mir leid, dass ich kein Zimmer mehr frei hatte‘, rief ich noch, da war er aber schon weiter. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Jeden Tag habe ich dann über diesen Jesus nachgedacht.
„Und dann, Großvater“, sagte ich, „hast du den Stall immer wieder ausgebessert.“
„Ich kann ihn doch nicht abreißen, wenn wirklich der Retter, der Messias, darin geboren ist“, erwiderte er nachdenklich.
Schließlich legte er sich auf das Stroh und streckte sich aus. Er war müde geworden vom Erzählen. Er schloss für eine Weile die Augen.
„Weißt du was, Simon“, sagte er dann. „An keinem anderen Ort finde ich so tiefen Frieden wie hier, wenn ich an dieses Kind denke.“
Dann schwiegen wir und gingen später stumm zurück. Aber es war kein peinliches Schweigen, sondern ein tiefes Verstehen.
All das geht mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich Bethlehem besuche. Wenn ich am Zaun ankomme, einen der alten Esel kraule und in den Stall hineingehe, denke ich daran, und an Großvater, an diesen tiefen Frieden in seinem Gesicht und zwischen uns. Und dies Gefühl ist geblieben und trägt mich. Ich bin meinem Bruder dankbar, dass er sich um die alten Esel kümmert und den Stall erhält, auch wenn er schon oft darüber geflucht hat. Natürlich kennt er die Geschichte von Großvater auch und sie ist wie ein Band zwischen uns allen geworden.
Mein Großvater war der Wirt von Bethlehem, der Wirt mit dem Stall vor dem Dorf. Und er war der, der in jener Nacht neugierig wurde und dann seinen Frieden fand. Ich finde ihn hier auch und bin dankbar, dass er mir alles immer wieder erzählt hat.
Tolle Idee aus der Enkelsicht zu erzaehlen.
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