Es ist Zeit, Abschied zu nehmen
Ich dachte, dass es mir im Winter leichter fallen würde, das Abschiednehmen. Wenn die Welt nicht aufblüht und die dunkle, kalte Zeit Leben auslöscht. Doch ist Abschied auch im Winter schwer.
In einigen Tagen oder Wochen wird alles vorbei sein. Wie oft darf ich bis dahin noch frische Luft schnappen, das Leben draußen riechen? Wie lange werde ich noch Wärme und Kälte spüren, Licht und Dunkel unterscheiden können?
Man bemüht sich um mich. Viele hoffen auf ein Wunder, auf Rettung. Sie beten. Ich habe aufgehört zu hoffen. Ich habe Schwierigkeiten, zu beten. „Danke Vater, dass ich wenig Schmerzen habe durch die Hilfe der modernen Medizin“, das geht nicht über meine Lippen.
Wenn ich bete, ist es eher ein Aufschrei: „Warum soll ich so früh sterben?“ Ein Aufschrei ohne Antwort. Doch schreie ich schon weniger. Ich will meine Zeit zum Abschiednehmen nutzen. Ich will mich arrangieren mit meinem Tod.
Meinem Mann habe ich gesagt, er soll sich das Lachen nicht abgewöhnen. Seine Fröhlichkeit fehlt mir hier im Krankenhaus sehr. Auch will ich wissen, dass er sie nach meinem Tod noch besitzt.
Wir haben schöne Jahre zusammen gehabt. Er soll sich eine andere nehmen, wenn ich nicht mehr bin. Er ist noch so jung und gesund. Kinder wünscht er sich so sehr. Ich will ihn glücklich wissen. Doch habe ich Angst, dass er eine andere mehr liebt als mich. Dabei wäre es doch egal. Freigeben werde ich ihn. Unsere Beziehung beenden mit dem Ende meines Herzschlags. Ein Abschied, der ihm Leben eröffnet. Wird es für mich ein zweites Leben geben?
Ich werde für einige Minuten auf den Balkon geschoben. Es war mein Wunsch. Er wurde erfüllt. Viele Wünsche, ganz banale, werden mir jetzt erfüllt. Jeder will mir noch etwas Gutes tun.
Ich werde die Bäume nie wieder grün sehen. Die Blumen werden für mich nicht mehr blühen. Ich werde keinen Sommer mehr erleben, keinen Urlaub mehr machen, die ewige Stadt nicht mehr besuchen. Meine Sommerkleider werde ich nicht mehr tragen, sie wären auch viel zu weit. Früher habe ich mir immer gewünscht abzunehmen. Jetzt wiege ich nur noch die Hälfte von damals, 70 Pfund. Damit ist man auch keine Schönheit.
Länger darf ich nicht draußen bleiben.
Ich genieße meine kalte Nase. Sie zeigt mir, dass ich noch empfinde, lebe.
Ich fühle mich erschöpft. Schlafe einige Minuten. Stark muss ich sein für nachher. Dann kommt mein Mann. Gestern waren meine Eltern mit ihm hier. Sie können nicht Abschiednehmen von mir. Sie haben auch nicht die Zeit dazu. Sie sind ja noch voll im Leben.
Ich habe jetzt Zeit, mich mit dem zu befassen, was jede Sekunde sein kann.
Am Anfang, als mein Tod feststand – er steht eigentlich für jeden fest, nur, dass er so bald sein soll nicht – wollte ich noch alles tun, was ich sonst nie geschafft habe: Bestimmte Bücher lesen, bestimmte Leute besuchen, bestimmte Dinge lernen. Natürlich war das alles Quatsch.
Die Bücher bleiben ungelesen, die Leute besuchen mich jetzt hier, alles Weitere nützt eh nichts mehr. Soweit hat das Abschiednehmen funktioniert.
Mit dem Träumen ist es schon schwieriger. Ich arbeitete an einem Bild, das mir seit Jahren im Kopf herumschwirrte. Es bleibt unvollendet. Ich wäre eine große Malerin geworden, in meinen Träumen war ich das immer. Wir, mein Mann und ich, wollten noch einige Jahre ins Ausland. Später wollte ich in einem alten Haus wohnen. Klavierspielen. Mit ihm alt werden.
Mein Mann macht mir ein Abschiednehmen unmöglich. Meine Eltern haben sich noch, meine Geschwister sind nicht allein. Nur er bleibt allein zurück mit meinem unvollendeten Bild. Ich werde ihn nie mehr fröhlich sehen. Nie.
Jetzt, wo ich mir Zeit nehme zum Abschiednehmen, fallen mir viele Dinge ein, auf die ich verzichten kann. Erschreckend viele. Je näher ich meinem Tod komme, desto weniger wird für mich wirklich wichtig.
Doch das, was mir wichtig bleibt, verhindert, dass ich meinen Tod annehmen kann. Wir haben und bereits eingestanden, dass wir alles nicht mehr ertragen. Wir haben so viel zusammen geweint, dass mir Lachen fremd ist. Ich wünschte, ich könnte ihn bald befreien. Für ihn will ich sterben. Ihm die Last nehmen, das Zittern, die Quälerei. Ich will tot sein für ihn. Heute schon.
Heute, wenn er kommt, werde ich Abschied nehmen. Wenn er aus dem Zimmer gegangen ist, will ich nicht mehr sein. Das ist das Einzige, was ich noch für ihn tun kann. Das ist mein letzter Wunsch. Er wird zu meinem ersten ruhigen Gebet seit langem.
Anke Dittmann ©
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