Niklas war ein Bastler und Zauberer, Julia eine Leseratte. Dazu liebte Julia ihre Ruhe, abgetaucht in die Geschichte ihrer heiß geliebten Bücher konnte sie Störungen nicht leiden. Niklas dagegen war immer offen für ein Experiment, da konnte es auch mal laut zugehen, wie bei Knall letzte Woche, als er mit den neuen, gigantischen Luftballons und Feuer hantierte. Darum kannte ihn jeder in der Ruprechtstraße und jeder hätte schon gern einmal an Niklas mit der Rute von Knecht Ruprecht ein Exempel statuiert. Dieser Schlingel! Gemeingefährlich. Julia dagegen fiel nie unangenehm auf. Sie war nett und höflich, still und hilfsbereit, solange man sie in Ruhe lesen ließ.
Niklas und Julia besuchten dieselbe Schule. Niklas war schon in der Oberstufe, Julia in der 10. Klasse. Beide kannten sich, natürlich, denn sie wohnten beide in der Ruprechtstraße. Julia in dem kleinen Bungalow gleich vorn an, Niklas in dem alten Siedlungshaus weiter die Straße hinab. Hinten, in dem alten Stall, wo früher das Kleinvieh gehalten wurde, hatte er sich seine Werkstatt eingerichtet. Ein Labor, bestaunt von Mitschülern, wenn sich einmal jemand dahin, verirrte, gefürchtet von allen Nachbarn.
Julia teile ihre Leidenschaft für Bücher mit ihrer Mutter. Das Wohnzimmer in ihrem Haus glich einer Bibliothek, die es von Umfang her gut und gerne mit einer kleineren Leihbibliothek hätte aufnehmen können. Und auch Julias Zimmer war von oben bis unten voller Bücher. Julia und ihre Mutter lebten allein im Bungalow. Ihr Vater war früh verstorben und ihre Mutter war seit seinem Tod oft seltsam abwesend und unkonzentriert. Sie musste ihren Beruf aufgeben und in Frührente gehen. Jetzt malte sie und las. Julia genoss es, dass ihre Mutter immer für sie da war. Oft tauschten sie sich über die Bücher aus, die sie lasen. Aber beide lebten ganz für sich.
Niklas dagegen hatte noch zwei kleinere Geschwister, Jonas und Flo, vor denen er viele seiner Experimente verborgen halten musste: zu gefährlich. Einmal hatte er versehentlich seine neuen Fackeln im Flur stehen lassen. Schon hatte sich sein kleiner Bruder Jonas eine der Fackeln geschnappt und damit im Wohnzimmer die HSV-Fahne seines Vaters angezündet. Da wäre fast das Haus abgebrannt und Niklas hatte wieder alle Hände voll zu tun, vor den Eltern den Erhalt seine Werkstatt zu verteidigen.
Was Niklas und Julia aber verband, ohne dass die beiden es wussten, war die Erfahrung von Einsamkeit. Julia floh davor in ihre Bücher und lebte oft in Traumwelten, Niklas verschwand in seiner Werkstatt und entwickelte irgendwas und träumte dabei Zauberer oder Erfinder zu sein. Wer von den anderen in der Klasse wusste schon wie es war, wenn der Vater früh starb und die Verantwortung für die Mutter mit auf den eigenen Schultern ruhte? Wer von den computersüchtigen Mitschülern legte schon noch selbst Hand an und experimentierte in einem alten Stall, weil es mit den beiden kleinen Geschwistern im Haus einfach zu eng und anstrengend war? Beide fanden niemanden, wo sie sich verstanden fühlten. Da half nur, noch mehr lesen und noch mehr experimentieren, damit diese Einsamkeit nicht so auffiel.
Es war Winter geworden. Niklas feierte seinen Namenstag, wie jedes Jahr am 6. Dezember, dem Nikolaustag. Als er am Morgen aufwachte, freute er sich über den Schnee. Es hatte schon lange nicht mehr geschneit. Oft erinnerte er sich an einen Urlaub im Odenwald zurück. Sie waren einige Tage nach Gammelsbach gefahren. Ein kleiner eher langweiliger Ort, doch als sie da waren, fiel so viel Schnee, dass sie eingeschneit wurden. Damals wurden deshalb sogar die Weihnachtsferien verlängert, das war fast eine richtige Schneekatastrophe. Aufregend.
Nach dem Frühstück packte er sein Geschenk aus, das seine Eltern ihm zum Namenstag geschenkt hatten und dann natürlich noch das, was der Nikolaus ihm in den Schuh gelegt hatte. Eigentlich war er dafür ja zu alt, aber seine Eltern bestanden darauf, weil seine kleinen Geschwister ja auch noch ihre Schuhe rausstellten. Seine Eltern meinten es gut mit ihm, sie schenkten ihm zum Namenstag einen neuen Zaubertrick mit Würfeln. Den hatte er sich schon lange gewünscht. In dem Nikolauspaket aber befand sich ein Buch: „Tintenherz“. „Was soll ich denn damit?“, dachte Niklas bei sich. Ist das nicht ein Mädchenbuch? Und überhaupt ein Buch?! Niklas las nicht so gern.
„Ach, ein Buch“, meinte sein Vater in einem Tonfall, als wäre der Inhalt des Pakets für ihn eine Überraschung. „Sicher möchte der Nikolaus, dass du einmal mehr liest.“
„Dem Nikolaus ist das sicher egal, aber dir nicht, Papa!“, ging es Niklas durch den Kopf.
Trotzdem bedankte er sich artig, er wollte ja keinen Stress mit den Eltern.
Natürlich war auch am Ende der Ruprechtstraße im kleinen Bungalow Nikolaustag. Als Julia ihr Geschenk aus dem Stiefel auspackte, wunderte sie sich. Kein Buch? Eintrittskarten waren darin. Eintrittskarten für ein Fußballspiel?!
„Was hat sich der Nikolaus denn dabei gedacht?“, entfuhr es ihr und sie war froh, dass sie den Nikolaus vorschieben konnte, denn sie fragte sich ernsthaft, was ihre Mutter sich denn dabei gedacht hatte. „Der Nikolaus dachte sicher, dass du mal etwas unternehmen solltest und auch mal raus aus dem Haus“, flötete die Mutter, als hätte sie ihre pädagogisch wertvollen zehn Minuten. „Es sind zwei Karten für ein gutes Bundesligaspiel. Bayern München gegen den Hamburger Sportverein, also suche dir eine nette Freundin oder besser noch einen Freund und los geht’s.“
„Danke schön“, sagte Julia zögerlich und ganz leise und dachte; „Fußball, mein Gott, ich interessiere mich doch nicht für Fußball. Und verkuppeln will sie mich auch noch. Das ist bestimmt ein Tipp von ihrem neuen Therapeuten.“
Nach dem Frühstück ging Julia einen Moment in den Garten, um frische Luft zu schnappen, nach dem Schrecken vom Nikolaus, aber auch, um den Schnee zu bewundern und Fotos zu machen. Im Vorgarten stand ein kleiner Ginsterstrauch, der mit Schnee überzogen wunderschön aussah. Als sie das Foto machte, kam gerade Niklas vorbei, der auch dringend frische Luft brauchte.
„Hallo Julia“, grüßte er.
„Hallo Niklas.“
„Auch mal frische Luft schnappen?“, sagte er mehr so einfach vor sich hin.
„Wegen dem Schnee. Ich mache ein paar Fotos. Übrigens: Alles Gute zum Namenstag.“
„Danke“, sagte er kurz.
„Du bist nicht gut drauf, oder? Haben deine Eltern deinen Namenstag vergessen?“, fragte Julia nach.
„Nein, aber ich habe etwas ganz merkwürdiges geschenkt bekommen. Ein Buch.“
„Toll, ein Buch. Wunderbar. Welches denn?“
„Du interessierst dich für Bücher?“, fragte Niklas verwundert.
„Kann man so sagen“, untertrieb Julia, „also welches Buch hast du geschenkt bekommen?“
„Tintenherz.“
„Tintenherz! Toll! Ist echt spannend!“
„Ja? Du kennst das Buch?“
„Klar, aber ich habe es noch nicht. Ich hätte mich gefreut.“
„Und du, Julia, hat dir der Nikolaus auch was in den Schuh gesteckt?“, fragte Niklas.
„Ja, meine Mutter ist etwas altmodisch und besteht darauf, dass ich den Schuh immer noch rausstelle. Diesmal hat sie mir leider kein Buch in den Schuh gelegt, sondern Bundesligakarten für zwei Personen.“
„Cool, welches Spiel denn?“, Niklas wurde neugierig.
„Ich glaube Bayern gegen Hamburg oder so.“
„Ein Spitzenspiel! Warst du schon mal im Stadion? Ist echt ’ne tolle Atmosphäre da. Super Geschenk!“
„Ich weiß nicht. Ich hab auch gar keinen, mit dem ich da hingehen kann.“
Niklas grinste. „Lass uns doch ein Geschäft machen. Ich gebe dir Tintenherz und du nimmst mich dafür mit ins Stadion.“
„Echt, du würdest mir das Buch geben?“
„Aber nur, wenn ich mit zum Spiel kann.“
„Von mir aus“, sagte Julia, „es ist gleich das erste Spiel nach der Winterpause.“
„Abgemacht! Willst du das Buch gleich haben?“
„Wenn’s dir recht ist.“
„Dann komm doch eben mit zu mir“, lud Niklas Julia ein, „ich habe das Buch schon in meiner Werkstatt.“
„Der berühmt berüchtigten, wo es immer kracht und zischt?“, Julia lachte, „da bin ich ja mal gespannt.“
So betrat Julia das erste Mal die Werkstatt von Niklas und staunte. Sie fragte aber auch nach und probierte das ein oder andere aus, den neuen Zaubertrick zum Beispiel. Fantastisch. Und sie war gar nicht so ungeschickt dabei.
Als Niklas dann Julia mit dem Buch nach Hause brachte, staunte er über die Bücher bei ihr im Wohnzimmer, über die Bücher im Flur und über die Bücher in Julias Zimmer.
Das neue Jahr brach an und die Mutter von Julia freute sich, als Julia tatsächlich gern ins Stadion fuhr, mit diesem Zauberer, der ein paar Häuser weiter wohnte und neuerdings einen Lesesessel in seiner Werkstatt haben sollte. Einen sehr bequemen Lesesessel – wie ihre Tochter bestätigte.
Und die Eltern von Niklas wunderten sich, dass dieser dann plötzlich doch das ein oder andere Buch im Zimmer liegen hatte, wenn auch nicht Tintenherz und wenn er auch nicht alle wirklich las.
Der Nikolaus irrt sich eben doch nicht, wenn er etwas verschenkt.
Anke Dittmann ©
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