Eine Geschichte für meine Tochter zum Geburtstag. Die fettgedruckten Wörter hat sie vorher genannt.
Martin war mit seinem Werbeplakat zufrieden. Das war einmal was völlig Neues für ihn. Er war gespannt darauf, wie das Team in der Werbeagentur darauf reagieren würde. Sorgsam legte er den Entwurf in seine Präsentationsmappe und ging in die Besprechung.
„Sie wissen alle“, führte seine Chefin darin aus, „dass wir die große Chance des Kaffeeriesen Josefs Bohne bekommen haben für die neue Cappuccino-Werbung, eine einmalige Chance. Es geht darum, vor allem Männer neu als Kunden zu gewinnen. Ich bin gespannt auf Ihre Ideen und Entwürfe.“
Martins jüngere Kollegen nannten ihre Ideen, manche hatten auch schon Skizzen dabei, manche waren mit ihren Entwürfen noch nicht so weit. Einige hatten Fotos und Fotomontagen auf den Tisch gelegt. Vieles wurde gleich verworfen, es war nicht überzeugend genug.
„Martin, was meinst du?“, fragte die Chefin, die seine Erfahrung schätzte.
„Nun“, begann Martin feierlich, „Ich habe an den kalten Winter gedacht, wo jeder sich über ein warmes Getränk freut.“ Mehr sagte er nicht, sondern zeigte seinen Entwurf aus der Präsentationsmappe.
Die Chefin staunte. Auf dem Bild war ein Drache zu sehen, der leger an einem Cafétisch saß und Cappuccino trank. Er setzte gerade die Tasse ab und aus seinem Drachenmaul kam genüsslich eine Stichflamme, die bei der Frau, die gegenüber am Tisch saß, die Winterkleidung aufblätterte bis zum Sommer-T-Shirt. In einer Sprechblase für den Drachen stand: „JOBO hält die Flamme in mir wach!“ Und drunter stand: „JOBO-Cappuccino sorgt stets für Genuss.“
Martins Chefin war begeistert und das Team auch. Noch in der Besprechung feilten sie am Bild, gaben der Frau mehr Sexappeal und dem Drachen eine deutlich männlichere Note. Auch Martin war damit einverstanden. Er überarbeitete seinen Entwurf daraufhin und gab ihn in die Produktionsabteilung. Der Vorstand von Josefs Bohne war zufrieden und machte den Vertrag und ab November hingen überall im Land die Plakate in Geschäften, auf Litfaßsäulen, an großen Plakatwänden.
Martin selbst war durch diese Werbung ein begeisterter Cappuccinotrinker geworden. „Für den Drachen in mir“, sagte er oft in sich hinein, wenn er die heiße Tasse an den Mund führte. Im Büro schielte er dann zu Melissa hinüber, seine neue, junge Kollegin aus dem Verwaltungsbereich. Gern hätte er sie näher kennen gelernt. Doch ihm fehlte dafür eine originelle Idee, um auf sich aufmerksam zu machen.
Aber Melissa war schon auf ihn aufmerksam geworden. Martin faszinierte sie mit seinen Ideen, seiner Art, seiner Höflichkeit, seinem Charme. Außerdem sah er sehr gut aus.
„Woher nehmen Sie immer all die Ideen?“, fragte sie ihn eines Tages, als er sich im Mitarbeiterraum Cappuccino kochte. „Von überall“, antwortete er, „ich schaue mich aufmerksam um, frage nach, lasse meiner Fantasie freien Lauf. Mal was Verrücktes tun, tut auch gut. Hier siezt sich aber keiner im Betrieb, ich bin Martin.“ Er reichte ihr die Hand. „Melissa“, antwortete sie und schlug ein.
„Er ist bestimmt 15 Jahre älter als ich“, dachte Melissa, „und wann habe ich das letzte Mal etwas Verrücktes getan?“ Sie konnte sich nicht erinnern.
„Kann man das lernen, diesen Blick für Ideen?“, fragte sie ihn.
Martin sah seine Chance, Melissa für sich zu gewinnen. „Lass dich einfach mal überraschen“, sagte er geheimnisvoll und ging.
Zwei Wochen später war Valentinstag. Eine Woche davor fand Melissa in ihrem Briefkasten ein Pergament, das alt wirkte. Es war aufgerollt und versiegelt, wie ein Brief aus dem Mittelalter und mit einer roten Schleife umgeben. Das Siegel sah aus wie ein Familienwappen. Melissa war neugierig und öffnete sofort.
„Herzliche Einladung zum Valentinstag. Du wolltest den Blick in die Welt der Fantasie wagen, es ist soweit. Komme dazu am 14. Februar um 12 Uhr zur alten Burg. Hochachtungsvoll, Martin.“
Melissa lächelte. Was würde das werden?
Der Tag konnte nicht schnell genug kommen. Melissa war fest entschlossen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Oben an der alten Burg, die als Ruine über der Stadt thronte, traf sie Martin schon gleich am ehemaligen Burggraben. Er hielt eine Augenbinde in der Hand und einen MP3-Player.
„Schön, dass du da bist“, begrüßte er sie, „herzlich willkommen zu einer Fantasiereise.“
„Ich bin mal gespannt“, sagte sie.
„Ich habe etwas für dich vorbereitet, dazu musst du jetzt diese Augenbinde tragen und dir diese Kopfhörer in die Ohren stecken. Keine Sorge, es ist nur zum Spaß.“
„Kann ich dir denn trauen?“, fragte sie. Martin nickte. „Selbstverständlich.“
Melissa nahm die Augenbinde und band sie sich um den Kopf. Dann stöpselte sie sich die kleinen Lautsprecher in die Ohren.
„Bitte ziehe noch deine Schuhe aus und trage dann diese Flipflops“, bat Martin. „Flipflops? In dieser Jahreszeit?“ Melissa war skeptisch.
„Wir machen eine Zeitreise, damals hatten die ärmeren Menschen auch keine ordentlichen Schuhe. Es ist ja auch nur für einen Moment.“
„Okay, aber nur kurz“, sagte sie.
„Vertrau mir“, beschwichtigte Martin sie.
Melisse konnte nun nichts mehr sehen, zog aber Schuhe und Socken aus. Martin nahm sie ihr ab und gab ihr die Flipflops. Es wurde verdammt kalt an den Füßen. Was würde das werden? So etwas Verrücktes hatte sie lange nicht gemacht.
Martin nahm ihre Hand, es war ein beruhigendes Gefühl, und ließ sie die Burgmauern erspüren. Die Steine waren uneben und rau, als hätten sie viel erleiden müssen. Er führte sie ein Stück und sagte dann: „Ich werde jetzt den MP3-Player anmachen, bitte sprich dann nicht mehr, sondern folge dem, was du hörst und meiner Führung.“
Spannende Musik wie im Film war nun zu hören und mit ihren kalten Füßen stolperte sie dazu der Führung von Martin hinterher. Sie ertastete mit seiner Hilfe ein Holztor und hörte, wie es sich knarrend öffnete. Sie durchschritten es und kamen in eine belebte Straße, sie hörte Händler rufen, Hühner aufgeregt gackern, Pferdegetrappel. Fanfaren ließen Bedeutendes erahnen und als jemand „Zur Seite für den König“ rief, riss Martin Melissa an eine Mauer. Sie hörte rasches Atmen und mehrere Pferde und Radgeräusche. Eine Kutsche war wohl vorübergefahren. „Ob jetzt der Krieg beginnt?“, hörte sie ein kleines Kind fragen. „Möge der König dies verhindern“, antwortete eine sanfte Frauenstimme.
Melissa ließ sich ein auf diese neue Wahrnehmung und hatte das Gefühl, sie könnte nicht nur hören, sondern auch riechen, was um sie geschah. Martin hatte allerdings einige Düfte dabei in verschiedenen kleinen Fläschchen und hielt sie ihr mit in die Nähe der Nase.
Sie gingen vorsichtig weiter. Die Steine auf dem Weg machten jeden Schritt beschwerlich. Melissa spürte das Muster der Pflastersteine unter ihren Füßen, jeder Stein schien ein eigenes Gesicht zu haben.
Jetzt kamen sie bei einem Handwerker vorbei, es waren Schmiedegeräusche. Melissa kannte diese aus dem Freilichtmuseum, auch roch es verkohlt. Martin führte sie in das Haus und ließ sie spüren, ob die Klinge gut war. Melissa schrie kurz auf, als sie die kalte scharfe Klinge berührte. Sie hörte ein Gespräch zwischen Martin und dem Schmied. Martin kaufte das Schwert, nachdem er es in einem kurzen Kampf mit dem Schmiedemeister ausprobiert hatte.
„Jetzt sind wir geschützter, falls uns jemand überfällt“, sagte Martins Stimme ihr ins Ohr.
Und schon hörte sie, wie ihnen jemand in den Weg sprang, der hastig atmete.
„Verräter!“, brüllte dieser jemand und zog ein Schwert. Martin stieß Melissa ein Stück zur Seite, als müsse er in einen Kampf springen. „Martin, Vorsicht!“, rief sie unwillkürlich. Martin lächelte.
„Nicht ich bin der Verräter, sondern du bist der verräterische Geist“, hörte sie ihn rufen und schon war ein Gefecht im Gang. Stöhnen, das helle Aufeinandertreffen der Klingen und Rufe, dass Melissa zur Sicherheit bleiben sollte, wo sie ist, waren zu hören. Melissa machte sich Sorgen um Martin. Doch er ging als Sieger hervor, der vermeintliche Gegner wurde in die Flucht geschlagen. Martin aber wollte sie nun in Sicherheit bringen, weil der Verräter bestimmt mit Verstärkung zurückkehren würde. Wieder tasteten sie sich eine Wand entlang und eine kleine Tür öffnete sich quietschend. Sie gingen hindurch. Jetzt wurde es wärmer an den Füßen und der Boden wurde ebener, doch es roch nach Stroh und Schwein. Melissa rümpfte die Nase. Martin lächelte. Da war das Grunzen auch schon zu hören. Martin setzte Melissa ins Stroh und wärmte ihre Füße mit seinem Mantel. Er packte eine Flasche Wein aus und frisches Brot. Er gab ihr die Flasche in die Hand. Sie trank, dann aß sie ein Stück. „Wir müssen weiter“, sagte die Stimme im Ohr, seine Stimme, auf die sie im Dunkel völlig angewiesen war.
Doch andererseits war es gar nicht mehr dunkel um sie, denn sie hatte die belebte Straße mit all den Händlern gesehen, die Schmiede, den Kampf. Sie sah den Stall, in dem sie jetzt im Stroh saß.
Melissa lächelte. Sie hatte verstanden.
Im Ohr waren jetzt ein Uhu zu hören und eine unheimlich klingende Turmuhr, es war die Zeitansage, wieder zu gehen, heraus aus dieser Reise, zurück in die Gegenwart. Martin zog seinen Mantel wieder an und half Melissa auf. Sie fühlte sich sicher an seiner Hand, das spürte auch er. Nochmals ging es durch die quietschende Tür, dann den unebenen Weg in der Kälte zurück zum Burgtor.
Martin war ein Perfektionist. Er hatte auch jetzt bei den Geräuschen die Details nicht vergessen. Gesprächsfetzen, Tiergetrappel, Geräusche von Marktständen. Als sie nach dem Tor wieder die Wand ertasteten, waren Melissa die Steine vertrauter geworden. Am Ausgangspunkt schaltete Martin das Gerät ab, nahm Melissa die Augenbinde ab und reichte ihr Socken und Schuhe zurück. Doch sie hatte noch gar keine Lust, die Augen zu öffnen. Noch mit geschlossenen Augensagte sie leise; „Danke. Das war perfekt, mein schönstes Valentinserlebnis.“
Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.
„Wollen wir noch einmal so in die Burg?“, fragte er.
„Nein“, sagte sie, „ich will sie heute so in mir behalten, wie ich sie mit verschlossenen Augen gesehen habe.“
Martin packte die Flipflops wieder ein. „Ich gebe zu, Sandalen wären echter gewesen, aber ich habe keine für so kleine Füße wie deine“ sagte er und grinste.
„Und jetzt?“
„Jetzt lade ich dich zum Cappuccino ein – bei mir Zuhause, mir ist kalt“, antwortete Melissa und hakte sich bei ihm ein.
„Eine Sache habe ich übrigens vermisst in der Burg“, sagte sie dann.
„Was denn?“ fragte Martin nach.
„Einen Drachen, wie den auf deinem JOBO-Plakat.“
„Na, den hast du doch jetzt am Arm“, erwiderte Martin und sah dem Rest des Tages genüsslich entgegen.
Anke Dittmann ©
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