Alicias Nussbaum

 

Im Vorgarten meiner Großeltern wächst ein großer Walnussbaum. Darunter stehen zwei Bänke und ein Tisch, die alle einladen zum Verweilen, denn der Vorgarten steht jedem offen. Es ist ein heiliger Baum, sagt meine Großmutter. Aber nicht deshalb, weil Großvater sie darunter zum ersten Mal geküsst hat, sondern weil er eine besondere Geschichte hat. Natürlich hat Großmutter mir diese Geschichte erzählt und ich sage sie euch gern weiter:

 

Es war einmal, als die Menschen Gold am oberen Fluss gefunden hatten, da machten sich aus unserem Dorf auch Greg und Margret auf, um ihr Glück zu suchen. Mit ihnen zog ihre Tochter Alicia. Alle kannten sie, denn sie hatte schönes, langes, rotbraunes Haar.

Der Weg zum Goldfluss war lang, beschwerlich und gefahrvoll und in der Gier wurden die Menschen heimtückisch und kalt. So erging es auch Greg und Margret.

Sie lernten, nur noch an sich zu denken und verlernten Vertrauen.

Am Fluss angekommen fanden sie keinen Ort, wo sie menschenwürdig leben konnten, sie hausten abseits der Städte, die voller Gewalt waren. Dort an einem Nebenarm des Goldflusses suchten sie ihr Goldglück. Umsonst.

Sie hungerten und Alicia weinte oft und Margret weinte, wenn Alicia endlich schlief.

Greg weinte allein im Wald, denn für Männer gehörte es sich nicht, Tränen zu zeigen.

 

Im Wald begegnete er dabei eines Nachts einem Eichhörnchen mit einem goldenen Schwanz. Greg wollte wissen, was es damit auf sich hatte und folgte ihm. Da beobachtete er, wie das kleine Tier Goldnüsse aus einem Erdloch grub. Er hielt sich verborgen und wartete, bis das Tier fort war, dann ging er genau dorthin und grub. Doch, wo es eben noch glänzte, fand er nur braune Nüsse. Und das Eichhörnchen war fort. Greg ging in der nächsten Nacht wieder in den Wald, sah das Eichhörnchen, folgte ihm zu einem anderen Platz und sah die Goldnüsse im Erdloch, wo das Tier grub. Diesmal platzte er aus dem Versteck, verscheuchte das Eichhörnchen und griff zu, doch da waren die Goldnüsse braun wie alle Nüsse. Greg fluchte und entschloss sich, das Eichhörnchen zu fangen. So nahm er in der folgenden Nacht eine Falle mit in den Wald. Er war ein geschickter Jäger und fing das ahnungslose Tier.

Margret und Alicia waren erschüttert, als sie das kleine Tier in dem Drahtkäfig sahen. Nie war Greg so feindlich gegenüber den Tieren gewesen. Er erzählte ihnen die Geschichte mit den Goldnüssen, aber sie glaubten ihm nicht, denn der Goldschwanz des Eichhörnchens war seit der Gefangennahme verblasst und nun rotbraun wie bei allen anderen. Greg wurde mürrisch und Alicia begann, ihren Vater zu fürchten.

Da ihr das Eichhörnchen Leid tat, ging sie in den Wald und suchte Nüsse. Sie verbarg sie unter ihrem Kleid. Als der Vater zum Goldwaschen war, gab sie dem Tierchen eine Nuss. Es aber freizulassen, traute sie sich nicht. Das Eichhörnchen aß die Nuss und Alicia freute sich darüber. Von nun an pflegte sie das Eichhörnchen, sammelte jeden Tag neue Nüsse und war froh darüber, dem kleinen Waldbewohner eine Freude machen zu können. Sie hörte auf zu weinen, während es um den Vater immer düsterer wurde.

Eines Abends, als er wieder kaum Gold gefunden hatte, entschied er in seiner Enttäuschung, das Eichhörnchen zu töten. Da fand Alicia endlich genug Mut, kam ihm zuvor und ließ ihren kleinen Freund frei. Das Eichhörnchen sprang aus dem Käfig und floh in den Wald. Greg fluchte und beschimpfte seine Tochter, fast hätte er sie geschlagen, die Hand hatte er schon gegen sie erhoben, doch auch Alicia entwischte ihm und flüchtete vor ihm in den Wald. Margret weinte, Alicia weinte, während sie in den Wald rann, der Vater tobte.

Als es Nacht wurde, suchte Alicia im Wald Schutz auf einem Baum. Kaum war sie auf einem großen Ast zur Ruhe gekommen, da kam das Eichhörnchen zu ihr. Es brachte ihr eine Nuss. Alicia dankte dem Eichhörnchen, das dann verschwand.

Greg aber war inzwischen bewusst geworden, was er getan hatte. Und zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen waren, dachte er nicht mehr an Gold, sondern an seine Tochter, die allein im Wald war. Er hatte sie vertrieben. Mehr als alles in der Welt wollte er sie wiederfinden.

Er ging in den Wald und rief seine Tochter, aber sie antwortete nicht. Da sah er das Eichhörnchen mit dem goldenen Schwanz. Er schreckte auf. Als das Tier davon sprang, lief er hinterher. Das Eichhörnchen führte ihn zum Baum, wo Alicia saß. Er sah nach oben und im Mondlicht erschienen ihm die rotbraunen Haare seiner Tochter wie Gold zu glänzen. Da erkannte er, wie seine Goldgier ihn geblendet hatte. Und dann sah er seine Tochter so wie früher an, voll Vertrauen und mit Herz. Als er ihren Namen hinauf rief, erschrak sie zunächst und verbarg schnell die Nuss in ihrer Tasche. Greg entschuldigte sich bei Alicia. Er schämte sich, so ein schlechter Vater zu sein, und versprach ihr, den Goldfluss wieder zu verlassen. Alicia war sich unsicher, ob sie ihm vertrauen könnte, gab ihm aber eine Chance.

Gemeinsam gingen sie zu Margret zurück und gleich am nächsten Morgen bereiteten sie ihren Aufbruch vor.

Auf dem Rückweg begegneten sie immer noch vielen Menschen, die der Goldrausch gefangen hatte, als zöge mit ihnen ein kalter Wind vorbei. Die Drei blieben unbeirrt auch ihrem Weg zurück und wussten sie waren frei. Die Nuss aber hütete Alicia noch heimlich bei sich.

Erst, als sie an ihrem Heimatort waren und sich dort wieder ein Zuhause aufgebaut hatten, erzählte sie ihren Eltern von der Begegnung auf dem Baum. Gemeinsam pflanzten sie die Nuss in ihren Garten und pflegten den daraus wachsenden Baum wie einen Freund.

 

Großmutter liebt diese Geschichte und ich liebe sie auch, die Geschichte und die Großmutter.

Viele Leute hat Alicias Baum seitdem erfreut, oft haben sich Menschen unter ihm getroffen zum Gespräch, zum Fest, zum Spiel. Seine Nüsse schmecken gut, wir haben sie schon mit vielen geteilt. Dieser Baum ist mehr als Gold wert, sagt Großmutter. Er ist unser Schatz, eine Kostbarkeit, die man nur mit dem Herzen erkennt.

 

 

Anke Dittmann ©

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